Kennst du das? Du möchtest eine Entscheidung treffen und bist voller Begeisterung, aber gleichzeitig spürst du, dass etwas in dir dich ausbremst, blockiert oder zweifelt. Du hast Sehnsucht nach der Nähe eines Menschen, und trotzdem gehst du immer wieder auf Rückzug. Du merkst, dass du eigentlich eine Pause brauchst, aber arbeitest unermüdlich weiter. Du willst jemanden ehrlich deine Meinung sagen, und hältst dann doch lieber den Mund. Anteilearbeit schaut sich diese Widersprüche an.
Was ist Anteilearbeit?
All diese Verhaltensweisen sind Resultate von inneren Konflikten. Durch verschiedene Lebenserfahrungen besteht unsere Persönlichkeit aus vielfältigen Anteilen. Sie schauen unterschiedlich in die Welt und haben oft entgegengesetzte Ziele und Strategien. Daher sind unsere Wahrnehmungen, Emotionen, Überzeugungen und Verhaltensweisen oft nicht so einfach und klar, wie wir es gerne hätten. Das ist ein normaler Ausdruck unserer psychischen Vielschichtigkeit. Viele Anteile haben sich meist früh in unserem Leben entwickelt. Sie sind Schutzmechanismen oder Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse. Oft sind sie uns nicht bewusst, beeinflussen aber unser Verhalten, unsere Beziehungen und unser inneres Erleben. Wie sich frühe Schutzmuster bilden und warum Selbstkontakt so wichtig ist, um alte Kindheitsverletzungen zu heilen, liest du in Verkörperte Gefühle und Inneres Kind.
Die Anteilearbeit lädt uns ein, diese inneren Stimmen und ihre Funktionen bewusster kennenzulernen. Wir kommen dadurch tiefer mit uns selbst in Kontakt, verstehen unser komplexes Erleben und innere Konflikte besser. Anteilearbeit ist ein Schritt, sie vielleicht bewusster zu lösen.
Was sind typische Anteile?
Die Anteile, die jede:r in sich trägt, sind sehr individuell, je nach Lebensgeschichte, Prägungen, Werte und Charakter. Aus meiner Erfahrung möchte ich dir ein paar Typische nennen.
- Antreiber: Viele von uns haben leistungsorientierte Anteile, die uns antreiben. Sie sind immer in Bewegung, nie zufrieden. Sie wollen unseren Wert in der Gesellschaft und unser Funktionieren sicherstellen.
- Das innere Kind: Fast jeder von uns trägt verletzte bedürftige kindliche Anteile in sich, die sich nach Zuwendung, Schutz und Gesehenwerden sehnen. Sie streben Sicherheit, Zugehörigkeit, Bedürfnisbefriedigung und Bindung an.

- Kritiker oder Wächter: Viele von uns haben sehr bewertende und wachsame Anteile, die alles in Frage stellen, vergleichen, anzweifeln und oft sehr streng sind. Sie wollen Orientierung und Kontrolle behalten, sich absichern, emotionale Verletzungen vermeiden und im Recht sein.
- Helfer oder Ausgleicher: Helfer-Anteile stellen andere nach vorne und möchten gebraucht werden, Konflikte vermeiden. Ihnen geht es um Harmonie, das Wohlbefinden der anderen, aber auch die Vermeidung von Schuldgefühlen und der Erhaltung eines positiven Selbstbildes.
- Rückzieher oder Vermeider: Diese Anteile vermeiden Nähe oder Veränderungen, gehen rasch auf Abstand und sind ängstlich. Sie wollen uns vor Verletzung, unangenehmen Gefühlen, Risiken und Problemen schützen.
Es gibt rebellische Anteile, die sich nicht anpassen wollen und schnell in Widerstand gehen, denen Freiheit über alles geht. Es gibt königliche Anteile, denen Macht und Einflussnahme wichtig ist. Es gibt weise Anteile, die uns Zugang zu unserer Intuition und innerem Wissen ermöglichen.
Warum ist Anteilearbeit wichtig?
Ihr seht schon, jeder Anteil hat seine ganz besondere Funktion und seinen Mehrwert. Bei seiner Entstehung war das wichtig und wertvoll. Vielleicht hat es sogar unser Überleben gesichert. Anteile sind keine ‚Störungen‘, sondern Strategien. Sie waren einmal hilfreich und klug, als Reaktion auf alte Wunden aus Bindungs- oder Entwicklungserfahrungen in frühen Lebensphasen.
In der Anteilearbeit geht es nicht darum, einen Anteil ‚wegzumachen‘, sondern ihn besser zu verstehen und seine heutige Rolle neu zu gestalten. Durch das Kennenlernen der verschiedenen Anteile werden uns die verschiedenen Schichten um unsere Kern-Persönlichkeit immer bewusster. Wir beginnen die Rollen, die wir spielen, zu verstehen. Wir erkennen die eigenen Überlebensstrategien. Wir können all unsere verschiedenen Gefühle und Sehnsüchte immer besser wahrnehmen und annehmen.
Viele innere Konflikte, Unsicherheiten oder Blockaden entstehen dadurch, dass unterschiedliche Anteile in uns gegensätzliche Bedürfnisse haben. Wir hören diesen inneren Stimmen nicht bewusst zu. Dann übernehmen oft unbewusst die lautesten oder stärksten Anteile die Kontrolle. Das kann zu Dauerstress, Selbstsabotage oder Erschöpfung führen.

Anteilearbeit und Körpertherapie
In Kombination mit Körpertherapie wird Anteilearbeit besonders wirksam. Unsere inneren Anteile leben nicht nur in Gedanken und Gefühlen, sondern zeigen sich auch im Körper. Sie sind in Haltung, Spannung und Blick spürbar, beeinflussen das Nervensystem und hormonelle Gleichgewicht. Genau dort können sie auch zu chronischen Symptomen führen.
Jeder Anteil hat eine eigene Körpersprache, eine bestimmte Energie, oft eine typische Muskelspannung oder Atemmuster. Darüber können sie auch gut wahrgenommen und gefühlt werden. Und über die bewusste Wahrnehmung kann man Anteile harmonisieren und Schritt für Schritt in die Veränderung bringen.
Der Kritiker zeigt sich vielleicht in einem festen Kiefer, Stirnfalten, hochgezogenen Schultern, flacher Atmung. Das verletzliche Kind spürst du vielleicht in einem Kloß im Hals, Druck oder immer wiederkehrenden Magenschmerzen. Vermeidende Anteile tendieren dazu, Druck nach innen aufzubauen, den Atem anzuhalten oder den Brustkorb zusammenzuziehen. Rebellische oder machtorientierte Anteile führen vielleicht zu einer starken muskulären Panzerung.
Was kann sich durch Anteilearbeit verändern?
Diese Signale können im Alltag übersehen oder unterdrückt werden. In der Körpertherapie bekommen sie Raum. Über achtsames Spüren, Bewegung, Atemarbeit oder innere Bilder wird es möglich, in der Anteilearbeit mit ihnen in Dialog zu treten.
- Wenn du auch die ‚unerwünschten‘ oder ‚fremden‘ Anteile sehen und verstehen lernst, entsteht mehr Selbstannahme. Die Akteur:innen innerer Konflikte werden sichtbarer. Widersprüche bleiben keine mentale Vorstellung, sondern werden fühlbare Erfahrung.
- Durch die Anteilearbeit erkennst du immer besser, welcher Anteil spricht, und kannst bewusster darauf antworten. Dadurch triffst du Entscheidungen reflektierter und ganzheitlicher.
- Mit der Zeit weicht der innere Druck, Antreiber werden leiser, Kritiker verlieren an Macht. Rebellen werden weicher, innere Kinder zufriedener. Es entsteht mehr innere Ruhe, Distanz zu jedem Anteil und damit Freiheit und Spielraum.

- Wenn innere Anteile nicht mehr unterdrückt werden, sondern gesehen, darf der Körper durchatmen. Spannung lösen sich, das Nervensystem reguliert sich leichter. Du kommst tiefer in deinem Körper an und entwickelst noch mehr Vertrauen in dich selbst und deine Wahrnehmung.
Neue Ressourcen und Möglichkeiten durch Anteilearbeit
In der körperorientierten Anteilearbeit geht es nicht darum, Erfahrungen zu analysieren, sondern ins Spüren und Erleben zu kommen. Du verkörperst innere Anteile und lernst sie dadurch besonders intensiv kennen: Wer spricht da gerade in mir? Was braucht dieser Anteil? Welche Funktion hat er? Wo spüre ich ihn im Körper?
Über Platzwechsel oder Aufstellungssequenzen können wir diesen inneren Anteilen Raum geben, ihnen zuhören, ihre Qualität urteilsfrei wahrnehmen. Oft zeigen sich dabei überraschende Ressourcen und neue Möglichkeiten: Ein vermeintlich ‚nerviger‘ Anteil war vielleicht lange ein Wächter, der Sicherheit geben wollte. Ein innerer Kritiker entpuppt sich in bestimmten Lebensbereichen als wertvolle Hilfe. Ein inneres Kind hat Begabungen, die lange im Schatten lagen. Ein übermotivierter Helfer für andere wird zu deinem treuesten Verbündeten in der Selbstliebe. Das gerade unsere Wunden eine Quelle unserer Inspiration und Schöpfungskraft sind, darüber liest du in Wunden und Perlen – Kindheitsverletzungen heilen befreit nach.
Anteilearbeit ist Beziehungspflege mit dir selbst
Je mehr du deine inneren Anteile kennenlernst, desto mehr erkennst du dich als Ganzes. Und genau hier beginnt Heilung: Du hörst auf zu kontrollieren und zu verdrängen. Du nimmst die unterschiedlichen Anteile in dir bewusst wahr, und entwickelst Mitgefühl für sie. Du gibst dir die Erlaubnis, du selbst zu sein – mit allem, was in dir lebt.
Wenn du das Gefühl hast, dass dich bestimmte Muster festhalten oder du dich selbst manchmal nicht verstehst, dann ist Anteilearbeit vielleicht genau der Schlüssel. In Verbindung mit deinem Körper kann sie dir helfen, tiefer zu spüren, liebevoller mit dir umzugehen und neue Wege zu öffnen.
Wenn du deine Anteile wahrnimmst, benennst und mit ihnen in Beziehung gehst, geschieht etwas Wesentliches. Du gewinnst Klarheit darüber, was gerade wirklich in dir wirkt. Du findest Mitgefühl für dich selbst, auch für die Anteile, die du sonst vielleicht ablehnst. Du befreist Energie, die vorher in innerem Kampf und Widerstand gebunden war. Du kannst dich immer besser mit dem Ort in dir verbinden, wo du bewusste Präsenz spürst, Klarheit und Mitgefühl. Manche nennen es auch das Selbst.
Ich freue mich, dich achtsam und traumasensibel auf diesem Weg zu begleiten.
Du hast deine Kindheit vergessen,
aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich.
Hermann Hesse