Gehört zu dir was du spürst?

hochsensibilität spüren

Hast du dir schon einmal die Frage gestellt, ob alles was du spürst und fühlst, auch Deines ist? Überrascht dich diese Frage?

Wir Menschen sind in unserer Wahrnehmung tatsächlich nicht unabhängig voneinander. Wir entwickeln unsere Fähigkeit zu spüren und zu fühlen von Anfang an in Beziehung. Emotionale Resonanz ist uns angeboren, Nervenzellen im Gehirn, die Spiegelneuronen, sorgen dafür. Mit ihnen können wir Gefühle anderer empathisch miterleben und nachahmen.

Schon als Embryo reagiert unser Gehirn auf Bewegungen und Stimmungen der Mutter. Später spürt das Baby die Umarmung der Eltern, riecht ihre Haut, nimmt wahr ob sie fröhlich oder traurig sind. Wir bilden diese Empfindungen nach, sie prägen unser Erleben, unsere Art die Welt erfahren.

Wir regulieren uns gegenseitig

Unser vegetatives Nervensystem lernt erst mit der Zeit, sich selbst zu regulieren, also Gefühls- und Erregungszustände auszubalancieren. Wie diese Regulation genau passiert, erfährst du im Artikel ‚Chronischer Stress und frühe Kindheit‘. Anfangs ist das Kind auf die Eltern angewiesen, um sich nach einer Aufregung wieder zu beruhigen, über liebevolle Worte, Berührungen, Blicke. Atmung und Herzschlag werden regelmäßiger, die Muskulatur entspannt sich. Das Kind fühlt sich sicher, gesehen, in seinem Gefühlszustand richtig. Dieses Gehaltenwerden ist wichtig für unsere körperliche und emotionale Ausgeglichenheit. Fehlt es, beeinflusst das unsere Fähigkeit, mit Stress, Spannung und intensiven Gefühlen umzugehen. Es kann auch bedeuten, dass wir uns später schwerer tun, anderen diesen Halt zu geben.

Die Spür- und Fühl-Antennen von Kindern sind sehr fein ausgeprägt. Sie sehnen sich nach Sicherheit und Ruhe, möchten, dass es allen gutgeht. Nimmt ein Kind sein Umfeld meist aufgeregt, belastet oder bedrückend wahr, und wird es dabei nicht ausreichend reguliert, kann das Kind beginnen, seine eigene Regulationsfähigkeit anderen zur Verfügung zu stellen. Dabei übernimmt es möglicherweise Gefühlszustände anderer, denn das Kind kann noch schwer unterscheiden, ob diese Gefühle eigene oder fremde sind.

Vielspürer und Feinfühler

Viele Menschen, die ich begleite, sind so wie ich selbst ‚Vielspürer‘ und ‚Feinfühler‘. Diese Fähigkeit kann über solche frühen Erfahrungen erworben sein, weil uns ausreichend Regulation gefehlt hat oder wir eben gelernt haben, unsere Fühler auszustrecken und unser Umfeld mitzuregulieren.

Sie kann aber auch angeboren sein, oder eine Mischung aus beidem. Man nimmt an, dass zwischen 15 und 20% der Bevölkerung eine erhöhte Sensibilität in der Verarbeitung äußerer Reize haben. ‚Hochsensibilität‘ ist eine Bezeichnung, die sich dafür immer mehr durchsetzt. Die Sinnesorgane scheinen aufnahmefähiger zu sein, die Schwelle, ab wann ein Reiz als stark empfunden wird, ist erhöht, die sensorische Übertragung und Verarbeitung der Reizinformationen im Gehirn stärker.

Hochsensibilität ist noch nicht gut erforscht, aber es ist naheliegend, dass erhöhte Wahrnehmung dazu führt, auf Reize im Außen stärker zu reagieren, Gefühle intensiver zu erleben und offener für die Emotionen anderer Menschen zu sein.

Hochsensibilität als Gabe

Spürst du die Stimmung, wenn du einen Raum betrittst? Möchtest du mitweinen, wenn du eine traurige Geschichte hörst? Fühlst du dich unter vielen Menschen oder bei Zeitdruck schnell unwohl oder gereizt? Erlebst du Gefühle intensiv und kannst dich schwer wieder davon lösen?

Hochsensibilität ist eine Gabe, die sensitiv, neugierig und mitfühlend macht, die ermöglicht, feine Zwischentöne wahrzunehmen und ein reiches inneres Erleben schenkt.

Doch es braucht ausreichend Zeit, die intensiven Erfahrungen und Eindrücke zu verarbeiten. Es braucht die Möglichkeit, Reize zu dosieren, Rückzugsmöglichkeiten und Ruhepausen, wenn es zu viel wird. Es braucht die Fähigkeit, zwischen dem eigenen Erleben und dem Anderer gut unterscheiden zu können.

Den inneren Raum klären

Aus meiner Praxis und meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass gesunde Abgrenzung für Menschen mit Anlage zur Hochsensibilität keine Selbstverständlichkeit ist, und die Frage, ob das was ich wahrnehme, zu mir gehört, sehr hilfreich sein kann.

Es ist mir wichtig zu sagen, dass alles was du spürst und fühlst, richtig ist. Der eigenen Wahrnehmung  zu trauen ist grundlegend. Wer viel spürt und fein fühlt, hat oft gehört, seine Wahrnehmung sei nicht richtig, weil eben nicht der Norm entsprechend.

Doch wenn wir uns früh angewöhnt haben, intensiv mit anderen zu fühlen, zu spüren was sie bewegt und was sie brauchen könnten, dann bringt uns das leicht aus dem Gleichgewicht und weg von dem, was für uns selbst wesentlich ist. Es bindet Energie, die wir anderweitig brauchen, und blockiert unseren Gefühlsausdruck und unsere Impulse.

Ein Schwerpunkt in meiner Begleitung ist die Wahrnehmung des Körpers, der eigenen Grenzen, das Zentrieren in deiner Mitte. Das unterstützt auch, den inneren Raum zu klären, Empfindungen, Gefühle und innere Konflikte loszulassen, die nicht die eigenen sind.

Der Weg zur inneren Harmonie

Wer tiefer in sein Spüren und Fühlen eintaucht, kann es auch besser für sich selbst einsetzen: Was brauche ich, dass es mir gut geht? Was sind Quellen meiner Kraft und Energie? Und was stresst, schwächt und belastet mich, was meide ich besser?

Das ist ein Baustein, Selbstregulation zu üben, zu lernen, Stress und Belastungen wieder auszugleichen. Das vegetative Nervensystem bekommt die Ruhephasen, die es zur Regeneration braucht. Je mehr ich in innerer Harmonie bin, desto leichter kann ich meine Grenzen wahren, höre auf, bewusst oder unbewusst die Stimmungen oder Themen anderer zu übernehmen.

Es ist inzwischen Teil meiner täglichen Routine, mich zu fragen, ob das was ich fühle und spüre zu mir gehört. Ich nehme sehr klar wahr, ob das so ist oder nicht, es hilft mir, gut bei mir zu bleiben, mich nicht in anderen zu verlieren, meine Energie bei mir zu halten.

Feines Spüren und Fühlen ist eine Gabe, die unsere Welt dringend braucht. Erlaube dir, diese Fähigkeit wertzuschätzen, sie wie ein zartes Pflänzchen zu hegen und zu pflegen, auch wenn sie in dieser sehr lauten und schnellen Welt oft fehl am Platz wirkt. Wenn du dir stimmige Umstände schaffst, genug Raum und Zeit gibst, dann wirst du ihr Potential und Reichtum voll ausschöpfen können. Dann wirst du lächelnd ganz bei dir bleiben und loslassen, was nicht zu dir gehört.

Lasse das Verhalten anderer nicht deinen inneren Frieden stören.

Dalai Lama

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