Die Lebenskraft Aggression achtsam frei lassen

Die Kraft der Aggression spüren

Bist du manchmal ärgerlich, wütend, zornig? Zumindest ein bisschen? Wenn du mit ‚ja‘ antwortest, dann gratuliere ich dir, denn das bedeutet, du kannst diese Emotionen spüren. Aggression, die dahinter liegende Kraft, erleben wir oft als explosiv und unangenehm. Wir spüren sie nicht gerne, weder bei uns noch bei anderen. Wir fühlen uns ihr ausgeliefert, sie bedroht unser Gleichgewicht. Wir bewerten sie meist als negativ.

Tatsächlich haben wir alle mit diesen Emotionen negative Erfahrungen gemacht. Wer sich aggressiv verhält, verliert leicht die Kontrolle und verletzt die Grenzen anderer, von kränkenden Worten bis hin zur körperlichen Gewalt. Die Auswirkungen kann man täglich in den Medien nachlesen. Wir machen daher meist einen großen Bogen um Wut und Zorn, nicht nur bei anderen Menschen, auch bei uns selbst. Wir erlauben uns schlichtweg nicht, sie zu spüren, und schon gar nicht, sie auszudrücken.

Aggression ist Lebenskraft

Damit nehmen wir uns jedoch ein großes Potential weg, schneiden uns von der eigenen Lebenskraft ab. Denn das ist Aggression im Kern: Lebenskraft! Aggression kommt von lateinisch ‚aggredere‘, auf etwas zugehen, annähern, das heißt es ist eine zugewandte Kraft, eine Kraft, die etwas Bestimmtes möchte: Unseren Willen durchsetzen!

Tiere knurren wild, um ihr Territorium zu verteidigen. Kinder bekommen Wutanfälle, um ihren Willen kundzutun. Wir ärgern uns, wenn jemand etwas tut oder sagt, das wir nicht gutheißen, wenn wir etwas als ungerecht, respektlos, unangemessen oder angriffig empfinden, wenn wir uns ausgenutzt, enttäuscht, kritisiert, überfordert oder verletzt fühlen. In all dem steckt: Wir behaupten unsere Grenzen, wir schützen unseren Raum.

Aggression ist eine wichtige Triebkraft, um unsere Bedürfnisse zu artikulieren, zu bekommen, was wir brauchen, um Hindernisse und Angst zu überwinden, die für Veränderung notwendige Energie zu mobilisieren. Die Wutanfälle kleiner Kinder sind Teil ihres Lernens, eigene und fremde Bedürfnisse zu unterscheiden, ihre Selbstwirksamkeit zu erfahren und ihre Persönlichkeit zu entwickeln.

Unerwünscht und bedrohlich

Hast du in deiner Kindheit die Erfahrung gemacht, dass Ausdruck von Ärger oder Wutanfälle ignoriert, verboten oder bestraft wurden? Hast du erlebt, dass dein Wille missachtet oder sogar gebrochen wurde? Hast du gar Wut und Übergriffe Erwachsener erlebt, die deine Grenzen verletzt haben und denen du hilflos ausgeliefert warst? Kaum jemand von uns hat gelernt, Aggression auf gesunde Weise wahrzunehmen und auszudrücken, und fast jede*r hat auf irgendeine Weise Grenzverletzung erlebt.

Die Botschaft, dass Aggression unerwünscht, schlecht oder bedrohlich ist, führt dazu, dass wir den natürlichen Impuls, uns durchzusetzen und zu schützen, zurückhalten und unterdrücken. Das geht so weit, dass wir ihn gar nicht mehr spüren können. 

Es ist das Zurückhalten von Aggression, das Zorn und Wut anheizt und bedrohlich macht. Denn Wut und Zorn haben eine heiße Energie. Sie geht mit viel Erregung einher, mobilisiert uns. Der sympathische Teil des Nervensystems ist stark aktiv (siehe zu seiner Funktion den Artikel Chronischer Stress und frühe Kindheit). Das erzeugt körperliche Reaktionen, die Hormone Adrenalin, Noradrenalin, Testosteron und Kortisol werden in vermehrtem Ausmaß ausgeschüttet, die Herzfrequenz erhöht sich, der Blutdruck steigt, die Muskulatur spannt an.

Gehaltene Aggression wirkt im Körper

Wer diese Ladung immer wieder zurückhält und hinunterschluckt, hält sie im Körper fest, was viel Kraft bindet. Bei manchen Menschen wird die verbleibende Ladung schnell wieder aktiviert, unterschwelliger Ärger und Zynismus ist dann ein ständiger Begleiter, Zorn kocht bei Kleinigkeiten unangemessen schnell und übertrieben hoch. Meist ist man sich der ‚alten‘, dahinter liegenden Gefühle, oft aus der Kindheit, nicht bewusst. Je hilfloser man zum Zeitpunkt der erfahrenen Verletzung war, je bedrohlicher und unbewusster die Situation, desto zerstörerischer ist oft die Wut, die in uns wirkt, eine Art Überlebens-Kraft, die unsere damalige Ohnmacht beenden möchte.

Wenn das Nervensystem merkt, dass es ständig im Kampf-Modus heiß läuft, ohne Resonanz zu finden, ohne etwas zu erreichen oder zu verändern, wird irgendwann unbewusst der hintere Ast des Parasympathikus aktiviert. Man geht in eine Art Totstellreflex. Wer die Ladung der Aggression gar nicht mehr spüren kann, wer sie dauerhaft verdrängt, dem geht daher oft auch der Antrieb im Leben verloren, es kommt zu Lähmung und Stagnation. Die Aggression richtet sich passiv gegen sich selbst, Zweifel und Selbstkritik lassen ein negatives Selbstbild und eine Opferhaltung entstehen. Langfristig erzeugt die gehaltene Ladung einen Dauerstress, sie kann zu gesundheitlichen Beschwerden wie Verspannungen, Bluthochdruck, Erschöpfung oder Depression führen.

Nicht gespürte und ausgedrückte Aggression blockiert also unsere Lebendigkeit und Tatkraft. Aggression positiv wahrzunehmen und klar auszudrücken kann uns motivieren, mobilisieren und ins Handeln bringen.  Ich ermutige daher, aufzuhören, Aggression zu bewerten, und uns stattdessen zu erlauben, sie zu spüren und konstruktiv zu nützen. Wer schon Wutanfälle von Kindern erlebt hat, weiß, man kann sie lustvoll zelebrieren, und wie ein Gewitter auch wieder vorbeiziehen lassen.

Der Wut Raum geben

In der Körperarbeit begleite ich dich, gehaltene Aggression im geschützten Raum achtsam zu spüren und sanft in Bewegung zu bringen. Wenn sich ihr Energie entladen kann und fließen darf, reguliert sich dein Nervensystem wieder.
Das mag jetzt widersprüchlich klingen, Achtsamkeit und Sanftheit einerseits, und die massive Ladung, die Wut hat. Und doch ist gerade das hilfreich. Wenn man Aggression lange verdrängt und negativ bewertet hat, erscheint sie oft übermächtig und bedrohlich. Dann kann uns alte, gehaltene Ladung leicht überschwemmen, wie es bei Wutausbrüchen oft passiert. Daher ist es sinnvoll, sich erst einmal vorsichtig zu nähern.

Nimm wahr, wo im Körper du Wut fühlst, und spüre, was es braucht, sie langsam in Bewegung zu bringen. Dieser Prozess kann innerlich passieren, indem du an diese Stelle atmest, sie sanft massierst, dir vorstellst, wie die dichte Ladung sich langsam verflüssigt und schmilzt. Du kannst die Energie aber auch ins Außen bringen, über einen Spaziergang, sanftes Stampfen, Schütteln, Tanz zu einer kraftvollen Musik, freien Ausdruck. Lass dich dabei achtsam von deinem Körper und seinen Impulsen leiten. Und sei nicht überrascht, wenn dann andere, darunter liegende Gefühle auftauchen, etwa Traurigkeit oder Ohnmacht. Erlaube auch ihnen, gespürt zu werden.

Dabei geht es erstmals gar nicht darum, zu wissen, wohin diese Ladung eigentlich gehört, sondern ihr einfach unbewertet Raum zu geben, sie als Energie wahrzunehmen, die sich bewegen darf, und erleben, dass sie nicht zerstörerisch wirkt, sondern befreit und in die eigene Kraft bringt.

Übungsräume für die Kraft der Aggression

Einen gesunden Zugang zu unserer Aggression zu finden, braucht sichere Räume. Mit Kindern kann man das sehr gut spielerisch machen, in dem man ihnen Angebote macht, ihre Ladung sicher und positiv auszuagieren und dabei mit sich und anderen in Kontakt zu bleiben. Sie können lernen, ihre Grenzen zu wahren, ohne die anderer zu verletzen.

Auch als Erwachsene können wir das nachholen. Viele Sportarten ermöglichen, spielerisch mit Kampfeslust und Grenzen zu experimentieren. Bewegung ist tatsächlich ein Schlüssel, die Ladung der Aggression immer wieder in Fluss zu bringen. Und wir können auch im Alltag üben, sie in Ausdruck, Sprache und Durchsetzungskraft umzusetzen, freudvoll und ohne andere zu verletzen.

Wenn du das nächste Mal wütend wirst, erlaube dir wahrzunehmen, was dich jetzt aktiviert. Ist es rein das, was jetzt gerade passiert, oder wird eine ähnliche Situation der Vergangenheit angesprochen? Wie kannst du klar mitteilen, wie du dich gerade fühlst und was du brauchst, ohne destruktiv zu werden? Wo im Körper spürst du die Aggression und wir kannst du sie sicher ausdrücken? Wenn wir unserer Aggression Raum geben und sie für uns nutzen, hören wir auf, dafür Projektionsflächen im Außen zu suchen und andere verantwortlich zu machen für die Emotionen, die wir selbst nicht zu leben und integrieren gelernt haben.

Wenn du das nächste Mal wütend bist, nimm‘ es als Erinnerung, dass dein Körper Entladung braucht. Gratuliere dir selbst zur Erlaubnis, deine Lebenskraft zu spüren und deine Grenzen zu schützen. Atme und beobachte, bevor du reagierst. Sich mit der Wut zu befreunden und ihre Ladung zu regulieren, ist ein Prozess, der Zeit und möglicherweise Begleitung braucht. Irgendwann wird sich die Wut dann in Mut wandeln, deine Energie und Tatkraft konstruktiv für das einzusetzen, was dir wirklich wichtig und wertvoll ist.

In einer Welt voller Gewalt
 brauchen wir einen spirituellen Umgang
mit der Lebenskraft der Aggression.

Pierre Stutz

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