Wunden gehören zum Menschsein. Sie prägen uns. Und es bleibt nicht aus, dass sie berührt werden, immer wieder.
Besonders tief und prägend sind unsere frühesten emotionalen Verletzungen. Aus ihnen resultieren viele unserer wesentlichen Muster, wie wir uns fühlen, verhalten und die Welt wahrnehmen. Alle späteren Verletzungen haben sich in Schichten darübergelegt. Egal was geschah, wichtig ist, was es mit uns gemacht hat. Wenn es uns bis heute begleitet und schmerzt, dann ist es bedeutsam.
Die Auster verschließt sich
Diese frühen Wunden wahrzunehmen ist nicht angenehm. Nicht umsonst haben sich im Laufe unseres Lebens viele Schichten darübergelegt. Sie erzählen von Angst und Einsamkeit, Traurigkeit und Wut, stöbern unsere dunkelsten Ecken auf. Daher ist es immer wieder herausfordernd, zu diesen Wunden zu gelangen. In ihnen liegt unser größter Schmerz. Wenn sie berührt werden, verschließen wir uns wie eine Auster.
Irgendwann haben wir die Erfahrung gemacht, dass uns der Schmerz fast umbringt. Also ziehen wir uns zurück, tun alles, um das Drama nicht noch einmal erleben zu müssen. Wir werden eine Wiederholung dieses Schmerzes vermeiden, koste es, was es wolle.
Etwas in uns ist immer noch im Kampf-, Totstell,- oder Fluchtmodus. Dieser Teil hat noch nicht begriffen, dass das Drama, die Gefahr, tatsächlich vorbei ist. Dieser Teil befindet sich auf der Flucht, sobald sich der Schmerz im Ansatz zeigt. Dieser Teil schlägt aggressiv um sich, läuft weg, erstarrt, friert Gefühle und Handlungsfähigkeit ein, je nachdem welche Form der Verteidigung uns am dienlichsten war. Spüren und Fühlen sind jedenfalls tabu. Abwehr, Süchte, Ersatzhandlungen und Ablenkungsmanöver sind meist das Mittel der Wahl.
Doch wenn wir unsere Verletzungen unterdrücken, vor ihnen weglaufen, binden wir auch viel von unserer Lebendigkeit, Ursprünglichkeit und Begeisterung. Wir haben den Schmerz überlebt. Wir sind jetzt in Sicherheit. Dieses Wissen erlaubt uns, hinzuschauen und hin zu spüren, durch all die vielen alten Tränen und Schichten hindurch. Dann entdecken wir in der Wunde das Wunder.
In der Tiefe wächst eine Perle
Aus unserer Verwundung ist ein Schatz gewachsen. Eine Perle bildet sich, wenn ein Sandkorn, ein Parasit, ein Fremdkörper, in die Auster eindringt. Diese versucht sich nun davor zu schützen, indem sie Schicht für Schicht viele Lagen Perlmutt um das Sandkorn legt. Daraus bildet sich eine wunderschöne, kostbare Perle.
Das verletzte Kind entwickelt ungeheure Kräfte und besondere Möglichkeiten, in seinem Schmerz zu überleben und sich in der Welt zu behaupten. Wir haben im Laufe unserer Entwicklung viele Lagen wunderbare Begabungen, Eigenschaften und Kenntnisse gebildet, um mit dem Schmerz umzugehen. Die Wunde öffnet uns den Zugang zur deren eigentlichen Bedeutung. Wunden sind Quelle unserer Inspiration und Schöpfungskraft, sie machen uns einzigartig.
Die Psychologin Jean Houston spricht von der ‚heiligen Wunde‘. Jede Wunde hat das Potential ‚heilig‘ zu sein, uns näher an unseren Lebenssinn zu bringen, wenn wir bereit sind, die alten, schmerzvollen Geschichten loszulassen und mit unseren Wunden eine neue Geschichte zu schreiben.
Ein schönes Bild dafür ist auch die Kunst des ‚Kintsugi‘, eine traditionelle japanische Methode, zerbrochene Keramik zu reparieren. Die Scherben werden mit einer Kittmasse geklebt, in die feinstes Pulvergold eingestreut ist. Es entstehen so wertvolle und einzigartige Kunststücke. Die Reparatur verbirgt den Makel nicht, sondern die Goldverbindung hebt den Bruch hervor und veredelt ihn. Die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit schafft eine völlig neue Schönheit. Aus dem Mut, den Zerbruch zu akzeptieren und sich mit Geduld, Aufmerksamkeit und Sorgfalt auf einen längeren Prozess der ‚Heilung‘ einzulassen, entsteht das Einzigartige und Besondere, das wir in die Welt bringen, unsere ‚Narben aus Gold‘.
I will try to love again
Wir können die alten Geschichten nicht mehr verändern, wohl aber die Perlen, die sie für uns bereithält, ans Licht bringen. Welche besonderen Fähigkeiten und Möglichkeiten sind aus deinen Wunden erwachsen? Wie haben sie deine Biographie auf eine Art und Weise geprägt, dass du deinen eigenen Weg gegangen bist? Wunden fordern dich heraus, dein Wachstumspotential ganz auszuschöpfen. Sie machen dich zu dem besonderen Menschen, der du bist.
Es geht nicht darum zu erwarten, dass die Wunden irgendwann vollkommen heilen. Doch wir dürfen Frieden mit ihnen schließen und ihre Kostbarkeit annehmen. Unsere Narben machen uns erst einzigartig schön. Sie zu akzeptieren erlaubt, uns selbst wirklich zu lieben. ‚The first cut is the deepest‘.. singt Cat Stevens, aber auch ‚… I will try to love again‘.
Meine Erfahrung ist, wenn wir tiefen Zugang zu unseren Wunden finden, fließen Tränen nicht mehr aus Schmerz, sondern aus Liebe und Dankbarkeit. Wenn wir die Fähigkeiten und Erkenntnisse aus diesen Verletzungen in die Welt tragen, dann sind wir Heilung für uns selbst und andere.
Es liegt an uns, uns trotz der Wunden immer wieder für die Liebe und das Leben zu entscheiden. Es liegt an uns, die Perlen zu polieren und ihren Glanz in die Welt zu tragen. Es liegt an uns, die Schichten unserer Begabungen weiter zu vertiefen und wachsen zu lassen, und aus unserem Schmerz heraus in unser volles Potenzial zu steigen.
So können die Wunden zum stärksten Motor unserer Entwicklung werden und Schlüssel unserer Bestimmung sein.
Und dann sind wir selbst die Perle.
Die Wunde ist der Ort, wo das Licht in dich eintritt
Rumi
Die Kunst der Menschwerdung besteht darin,
unsere Wunden in Perlen zu verwandeln
Hildegard von Bingen
Dieser Beitrag hat 3 Kommentare
Danke liebe Claudia für diesen wundervollen Artikel! Ja genau so sehe ich es auch: Unsere Wunden in Quellen der Kraft zu verwandeln! Danke für deine wertvolle Arbeit und Sein! 🙏❤
Super schöner Blog liebe Claudia!
Und so wahr, man muss es nur erkennen und den Mut haben, diesen Weg zu gehen.
Alles Gute weiterhin für deine wunderbare Arbeit am Menschen!
❤