Fluss und Widerstand

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Kennst du das – dich irgendwie gelähmt, resigniert, blockiert zu fühlen? Diese zähen Phasen, wo alles schwerfällt, steckt, nichts scheint mehr weiter zu gehen. Ablenkung funktioniert, aber nur vorübergehend. In diesem Zustand der Stagnation fühlen wir uns oft wie erstarrt, abgeschnitten, abgetrennt, von uns selbst und anderen, stumpf und ausgebrannt. Wo sind Begeisterung, Freude, Leidenschaft und Lebendigkeit geblieben?

Die Sehnsucht ist groß, wieder in Bewegung zu kommen – nur wie und wohin? Oft ahnen wir tief in uns, in welche Richtung es gehen könnte, aber etwas in uns scheint die Erfüllung zu boykottieren.

Selbstsabotage am eigenen Wachstum

Früher bin ich in solchen Phasen meist krank geworden, mit einer heftigen Bronchitis oder ähnlichem. Ich hatte buchstäblich die Nase voll, den anderen etwas gehustet. Die Viren haben dafür gesorgt, dass die Welt auf Abstand blieb. Im Krankenbett konnte ich erlaubterweise in meiner Lethargie baden, mich mit Filmen oder Büchern ablenken.

Ich negierte den Zustand, wehrte mich dagegen, und bin dadurch noch tiefer hineingeraten. Welche Strategien kennst du, diesen Zustand der inneren Erstarrung und Trennung nicht zu spüren? Exzessives Arbeiten, Fernsehen, Computerspiele, Essen, Alkohol, Prokrastinieren, Schlafen, Kopfkino…  Als ich begann, meinen Zustand bewusst wahrzunehmen, die Lähmung und den Stillstand wirklich spürte, nahm ich dahinter auch die Überforderung wahr, den inneren Stress, die Resignation. Das war erst einmal nicht angenehm, aber ein wichtiger Schritt, es zu verändern.

Heute weiß ich, es wurde ein altes Muster aktiviert. Dazu muss ich ein wenig ausholen: Unser autonome Nervensystem reagiert auf das, was wir erleben. Sein sympathischer Zweig ist für Aktivität, Leistung und Kampf verantwortlich, der parasympathische Teil bewirkt Ruhe, Empathie und Regeneration (mehr zu dieser Funktionsweise unter ‚Chronischer Stress und frühe Kindheit‚). Wenn bei Gefahr oder dauerhafter Überforderung die beiden oberen Systeme nicht helfen, diese abzuwenden, wird der älteste Zweig des Systems aktiviert, der dorsale Vagus, und es folgt die Erstarrung. Unser Organismus stellt sich quasi tot, wie ein Tier in der Wildnis, das angegriffen wird und nicht mehr fliehen kann. Das bedeutet Resignation, Lethargie, Depression, Lähmung, wir spalten uns von Gefühlen und Körperbefinden ab.

Fallen wir im Leben immer wieder in solche Zustände, dann ist das ein Hinweis darauf, dass wir vielleicht früh und wiederholt Erfahrungen gemacht haben, die für uns nicht bewältigbar waren. Gerade wenn wir in unserer Entwicklung einen Schritt vorwärts machen, und das Neue uns unbekannt und gefährlich scheint, kann dieses alte Muster wieder aktiviert werden.

Wenn alte Muster reaktiviert werden

Ich bin also Opfer meines alten Sabotageprogrammes geworden. Ich wollte nicht spüren, das war meine Widerstands-Strategie gegen den Wandel. Ich erklärte Stillstand, Komfortzone und Schnupfennase zum Normalzustand. Doch es war der Widerstand selbst, von dem ich genug hatte. Genug, mich selbst immer wieder zu boykottieren und Sabotage am eigenen Wachstum zu betreiben.

Sobald es ernst wird mit der Veränderung, zeigen sich oft innere und äußere Widerstände. Denn wenn uns der Fluss des Lebens weiterträgt, bricht eine Reise ins Unbekannte an. Die gewohnten Muster, in denen wir uns eingerichtet hatten, taugen nicht mehr. Wir wünschen uns Erfüllung, doch was bedeutet es, über uns hinaus zu wachsen, ein neues Ziel zu erreichen? Darf ich mir das erlauben, neu und anders zu sein und in der Fülle meiner Möglichkeiten zu leben?

Der Zustand von Starre und Bewegungsunfähigkeit ist also eine Schutzstrategie des Körpers bei extremer Überforderung oder Gefahr. Wir ‚frieren ein‘, trennen uns von der bewussten realen Erfahrung ab, um überwältigende Situationen, denen wir hilflos ausgeliefert sind, zu bewältigen. Unser Nervensystem schützt uns, um mit Erfahrungen klarzukommen, die zu viel, zu dramatisch, zu bedrohlich waren.

Verbleibt die Erstarrung aber dauerhaft im Körper, hindert das unser Nervensystem, sich gut zu regulieren. Was für den Moment eine kluge Strategie unseres Körpers war, wird zum Hemmnis, wenn sie in Überforderungssituationen reaktiviert wird. Und Veränderungsprozesse bringen uns nun einmal meist aus der Komfortzone. Das Nervensystem kann nicht mehr unterscheiden zwischen echter Bedrohung und der Unsicherheit neuer Erfahrungen.

Hingabe ans Unbekannte

Seit mir bewusst ist, welche Muster da aktiviert werden, übe ich mich in Zuwendung und Hingabe. Ich erinnere mich voll Mitgefühl an das Kind, das sich schützte. Ich nehme die Erstarrung an, schenke ihr liebevolle Streicheleinheiten. Denn Berührung und Verbundenheit hilft dem Nervensystem, aus der Erstarrung zu finden.

Heute ist die Erstarrung da, mich freundlich, aber bestimmt zu erinnern, dass ich an einem wichtigen Moment in meiner Entwicklung angelangt bin, dass Veränderung möglich und erwünscht ist. Heute nehme ich die Blockaden zum Anlass hinzuspüren, was es noch braucht, um heil und ganz zu werden, liebevoller mit mir zu sein, mein Tempo zu finden, um dann wieder hinaus in die Welt zu gehen.

Wenn es steckt, zäh und dumpf wird, schalte ich meine Spür-Sensorien noch einen Gang höher, um wahrzunehmen worum es wirklich geht. Ich setze Veränderungsimpulse, die mich meiner Sehnsucht näherbringen, Schritt für Schritt, auf allen Ebenen. Oft ist es so, dass Herz und Seele längst wissen wohin die Reise geht, aber im Körper sind noch die alten Programme gespeichert.

Wieder in Bewegung kommen

Ich erlaube mir zuallererst, die Widerstände bewusst zu spüren und nehme die dahinter liegenden Gefühle wahr. Wenn ich meinem Körper Raum gebe, mich hingebe, dem Zustand erlaube zu sein, dann zeigen sich Resignation oder Zweifel, Angst, Traurigkeit oder Wut.

Dann ermögliche ich meinem Körper, im geschützten und für mich passenden Rahmen, sich auszudrücken, in welcher Form auch immer. Wo haben sich die Gefühle versteckt? Wenn alles taub und erstarrt scheint, wo findet sich der erste winzige Bewegungsimpuls? Ich bewege meine Verspannungen, meine Starrheit achtsam und sanft, dehne mich in meine Begrenzungen hinein. Ich lasse mich von meinem Körper führen und bringe von innen heraus in Bewegung, was sich stagniert und festgefahren anfühlt, lasse die Blockaden langsam schmelzen. Alles, was bewusst und vorsichtig in Bewegung bringt, tut hier gut. Dabei helfen auch Conscious Dance Tanzpraktiken, bestimmte Formen achtsamer Berührung oder eine Bewegungs-Praxis wie sanftes bewusstes Yoga.

Die Erstarrung löst sich langsam, der innere Fluss wird wieder spürbar, im Körper gehaltene Aktivierung wird frei. Der Körper bekommt liebevoll und klar die Botschaft ‚Es ist vorbei. Du bist in Sicherheit. Du bist verbunden.  Du darfst dich spüren und bewegen.‘

Achtsamkeit und Mitgefühl

Aus diesem Ausdruck heraus entsteht meist auch ein Verständnis dafür, worum es geht, und welche Muster sich verändern wollen. Und dann übe ich Mitgefühl mit den Anteilen in mir, denen immer noch der Mut fehlt, die noch bedürftig sind, gerne im Alten hängen bleiben. Veränderung fordert uns. Ein neues Ziel zu erreichen, bedeutet auch, mich auf eine neue Ebene zu bewegen, Gewohntes loszulassen und Unbekanntes willkommen zu heißen. Ich lasse mir die Zeit, die das braucht, erlaube mir Rückzug und Ruhe, spüre achtsam nach was meine eigentlichen Bedürfnisse sind, und erfülle sie mir. Und ich versuche, das wenige das ich tue, bewusst und achtsam zu tun, mit allen Sinnen, als wäre es das erste Mal.

In Phasen von Erstarrung und Widerstand ist unser Körper die wunderbarste Ressource, die wir haben. Ihn zu spüren führt uns zurück in den Kontakt mit uns selbst und verbindet uns wieder mit unserer Lebendigkeit. Sie ist immer da, immer in Fluss, auch wenn wir sie gerade nicht wahrnehmen können, wir dürfen darauf vertrauen, dass sie uns führt. Alles was es braucht ist die Bereitschaft zu spüren und die Hingabe an das was ist.

On the other side of resistance is flow.

Guy Finley

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