Chronischer Stress und frühe Kindheit

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Kennst du das Gefühl, immer wieder unter Druck zu stehen? Nie genug Zeit und Ruhe zu haben? Angst, Sorge oder Wut kommen schnell in dir hoch? Wenn wir schon früh Stress erlebt haben, beeinflusst das unsere Entwicklung massiv. Ein hoher Erregungszustand wird für den Körper normal. Auch mich hat chronischer Stress lange begleitet. Aber wie kommt es dazu, und was macht uns so hilflos, das zu ändern?

Was bei Stress im Körper passiert

Die Antwort liegt in unserem vegetativen Nervensystem. Dieser Teil des Nervensystem regelt die unbewussten Abläufe im Körper, die man nicht mit dem Willen steuern kann, also etwas Atmung, Herzschlag, Durchblutung oder Ausscheidung. Es reagiert auf äußere Reize und deren Signale, und lässt uns angemessen auf darauf reagieren. Wenn du dich anstrengst, schwitzt du zur Kühlung, wenn die Blase voll ist, entleert sie sich, auf einen abfallenden Blutzuckerspiegel regiert der Körper mit Insulin-Ausschüttung. All das passiert automatisch.

Der sympathischer Zweig des vegetativen Nervensystems macht uns bei Belastung oder Bedrohung aktions- und leistungsfähig. Eine knappe Deadline im Büro, ein aggressiver Mitmensch, ein Missgeschick oder eine sportliche Höchstleistung, und wir reagieren mit gesteigerter Erregung. Unser Körper schüttet Hormone wie Adrenalin und Cortisol aus, Herzschlag, Blutdruck und Muskeltonus erhöhen sich, das Zwerchfell und viele Muskelgruppen spannen an, der Atem vertieft sich. Zucker und damit Energie wird mobilisiert. Unser Stammhirn lässt unsere Instinkte aktiv werden: Flucht, Kampf oder doch lieber Totstellen?

Ist der Stress vorbei, tritt der parasympathische Zustand ein. Der Organismus reguliert sich wieder, Darm und Nieren beginnen zu arbeiten, Herzschlag und Atem werden ruhig, die Muskulatur locker, wir atmen auf, können wieder klarer denken und fühlen uns entspannt. Unser ganzes System erholt sich.

In diesem Wechsel schwingen wir, vielleicht sogar täglich mehrmals. Ist unser Körper fähig, leicht und problemlos zwischen diesen Zuständen zu wechseln, nennt man das eine gute Selbstregulation. Wir fühlen uns wohl und können auf Herausforderungen adäquat reagieren. Unser Nervensystem reagiert flexibel auf verschiedene Gefühlszustände und kann sich leicht wieder in Ruhe bringen. Wir sind sozusagen stress-resistent.

Wann wir die Regulation von Stress lernen

Dieses wunderbare Instrument ist allerdings bei der Geburt noch nicht ganz ausgebildet. Kinder kommen mit einem unfertigen Nervensystem und Gehirn auf die Welt. Dieses reift in den ersten Lebensjahren aus. In dieser Zeit lernen wir innere Selbstregulation über das Außen, im Kontakt mit anderen. Wir brauchen Zuwendung und Körperkontakt, eine gute Balance zwischen Stimulation und Ruhe, eine sichere Bindung und Fürsorge, um unser Nervensystem gut zu entwickeln. Es sind unsere Bezugspersonen, meist also die Eltern, die unser unfertiges Nervensystem anfangs ersetzen.

Darum kommen Kinder zum Kuscheln, lassen sich über Halten beruhigen und trösten, wenn sie Aufregung, Wut oder Angst noch nicht alleine verarbeiten können. Diese Regulation, die vornehmlich über die Aktivierung der rechten Gehirnhälfte geschieht, nennt man Co-Regulation. Die Bezugspersonen übernehmen von außen die Regulation, die das Kind selbst noch nicht leisten kann. Wenn Eltern empathisch sind, auf Probleme eingehen, verlässlich da sind, Interesse haben, selbst Gefühle zeigen, dann entwickelt das Kind immer besser die Fähigkeit, flexibel auf die innere und äußere Welt zu reagieren. Es fühlt sich sicher, kann sich selbst regulieren, gut auf andere reagieren, spürt, was es braucht an Nähe und Distanz, Pausen und Aktion.

bei stress wird das nervensystem starr und 'friert' ein

 

Wie frühe Überforderung das Nervensystem beeinflusst

Du kannst dir vielleicht vorstellen, was es bedeutet, wenn Regulation über die Eltern oder andere Bezugspersonen schlecht oder nicht stattfindet, wenn ein Kind in Erregungszuständen oft und lange alleine bleibt, wenig Zuwendung und Nähe erfährt, oder immer wieder bedrohliche Situationen erlebt.

Für diese Kinder ist alles Stress, und mit diesem Stress  bleiben sie alleine. Das überfordert ihren Organismus, eben weil das vegetative Nervensystem noch nicht ausgereift ist.  Stress entsteht dabei nicht nur durch negative Erfahrungen mit den unmittelbaren Bezugspersonen, sondern auch bei komplizierten Geburten und Schwangerschaften, Einwirkung von Medikamenten oder Suchtmitteln, Krankenhausaufenthalten, Trennungen, Schocktrauma bei akuter Gefahr, frühe Mobbing-Erfahrungen oder andere Situationen, in denen die Sicherheit über einen längeren Zeitraum bedroht ist. Auch dauerbelastete oder selbst gestresste Eltern können ihre mangelnde Regulation an Kinder weitergeben. Es gibt viele Gründe, warum ein Kind seine Selbstregulation nur schlecht entwickelt.

Solche frühen und immer wiederkehrenden Belastungen verringern unser sogenanntes ‚Toleranzfenster‘, das heißt der Spielraum, innerhalb dessen wir etwas als angenehm und gut bewältigbar empfinden. Wir geraten schneller in den unangenehmen Bereich der Über- oder Unterforderung. Wir können starke Erregungszustände wie bei Wut, Angst oder Glück nicht gut aushalten, wir vermeiden und unterdrücken sie. Wir können plötzliche und massive Belastungssituationen nicht gut bewältigen, ein hohes Niveau an Erregung verbleibt dauerhaft im Körper.

Wenn das Wohlfühl-Fenster eng ist, nehmen wie Situationen schneller als Stress wahr. Außerdem weichen wir auch der ‚Unterforderung‘ von Entspannungs-Situationen aus. Der Körper hat sich daran gewöhnt, unter hoher Erregung zu stehen, er ist vielleicht sogar ein wenig süchtig nach den dabei ausgeschütteten Hormonen. Also kreieren wir uns dies im Alltag, und ein hoher innerer Stresspegel wird zum Normalzustand. Oft passiert das unbewusst, denn die Spannung und Erregung wird als immer schon dagewesen wahrgenommen. Sie ist im Gewebe auf unterschiedlichen Ebenen abgespeichert, das heißt ein völliges Loslassen und Entspannen ist uns gar nicht mehr möglich.

Das vegetative Nervensystem geht irgendwann davon aus, dass die Welt ein unsicherer Ort ist und man es alleine schaffen muss. Der neuere Teil des Parasympathikus, der ventrale Vagus, der für das Sozialverhalten zuständig ist, bildet sich nicht gut aus. Es ist uns nicht mehr möglich, uns gut zu spüren oder Kontakt und Beziehung zuzulassen. Der ältere, sogenannte dorsale Vagus, wird aktiv, man verfällt in eine Erstarrung, in den ‚Totstell-Reflex‘, eine ganz alte Schutzstrategie des Körpers bei Gefahr. Wir sind dann so dysreguliert, dass wir körperlich wie gelähmt scheinen und unsere Emotionen abspalten, wie gefühllos erscheinen.

Wie es zu Burnout-Gefährdung kommt

Wenn uns die Welt also ständig bedrohlich erscheint und wir Reize nicht mehr adäquat verarbeiten können, sind wir im Dauerstress, und das mit einer schlecht ausgebildeten Selbstregulation. Damit sind die Voraussetzungen für ein Burn-Out da. Oft kommt dazu, dass wir dazu neigen (der schlecht ausgereifte ventrale Vagus lässt grüßen), alles alleine zu schaffen und Beziehungen mehr als Stressfaktor denn als Ressource wahrzunehmen. Manche erleben permanente Grenzverletzungen und ‚scannen‘ die Umwelt stets auf mögliche Gefahren, weil sie das Außen in der Kindheit als bedrohlich und unberechenbar erlebt haben, was wiederum aus der eigenen Kraft bringt und zusätzliche Energie kostet.

Wenn Belastungen und Stress, egal aus welchen Gründen, zum Dauerzustand werden, ist unser System irgendwann überfordert. Ob diese Belastung tatsächlich existiert oder nur gefühlt wahrgenommen wird, macht für den Körper keinen Unterschied mehr. Wir sind im permanenten Reagieren, Unzufriedenheit und Erschöpfung breiten sich aus. Chronischer Stress und nicht ausgedrückte Gefühle erzeugen massive Verspannungen, die sich tief im Körper festsetzen. Ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel kann das Immunsystem, Gedächtnis und Herz-Kreislauf-System schädigen. Somatisierungen häufen sich, wir entwickeln Symptome wie etwa Magen- Darmprobleme, Bluthochdruck, Migräne, Tinnitus, Verspannungsschmerzen oder hormonelle Schwierigkeiten. Viele Menschen mit chronischem Stress haben vermutlich aus der Balance geratene Hormonwerte, das wird ärztlich noch zu selten abgeklärt. Aber auch psychische Reaktionen wie Panikattacken oder Depression können eine Folge dieser chronischen Überforderung sein.

Was wir für die Regulation von Stress tun können

Die gute Nachricht ist: Auch diese ganz alten Muster sind wandelbar. Über bewusste und achtsame Körperwahrnehmung können wir spüren lernen, was sich verändern möchte. Unser Körper kann lernen, wieder in Balance zu schwingen, zu entspannen, das Toleranzfenster langsam zu erweitern, belastende Erfahrungen zu integrieren. Psychosomatische Symptome und alte ‚Fehlalarme‘ beginnen sich zu lösen.

Co-Regulation zu üben ist dabei wesentlich. Daher ist in in meiner Körperarbeit der Beziehungs-Aspekt wesentlich. Präsenz, Zuwendung und Mitgefühl zu erfahren und zu üben, sie uns auch selbst zu geben, unterstützt die Regulation des Nervensystems. Empfangen, öffnen, loslassen, all das sind Fähigkeiten, die es zur Entspannung braucht. Wir können Selbstregulation im achtsamen Selbstkontakt üben und alten Kontakt-Mangel ‚nachnähren‘.

Vielleicht ist es auch für dich hilfreich, zu wissen, wie tief körperlich Stress wirkt. Deswegen brauchen Stress-Muster viel Geduld und Dranbleiben, um sich nachhaltig zu verändern. In ‚Slowdown statt Burnout‘ habe ich schon über körperliche Stress-Prävention geschrieben. Für mich war die Körperarbeit ein Schlüssel, meine Muster in Bezug auf Stress wahrzunehmen und zu transformieren. Work in progress, sozusagen. Angefangen hat das bereits vor 20 Jahren mit Atem-Arbeit. Meine Therapeutin damals hat den erlösenden Satz gesagt ‚Man kann auch mit 80 noch neu beginnen‘. Wenn du zu denen gehörst, die schon lange unter Dauer-Stress leiden: Es ist nie zu spät, das zu verändern.

Sei ein Seemann.
Versuche nicht,
Wind und Wetter zu verändern,
sondern richte deine Segel!

Teles von Megara

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