Dich spüren macht glücklich

Spüren bedeutet, das Leben intensiv wahrzunehmen

Spürst du dich gut und bewusst? Diese Frage ist vielleicht für viele unverständlich. Unseren Körper-Spür-Sinn kann man schwer messen und vergleichen. Ich kann diese Frage auch erst rückwirkend beantworten. Hier teile ich meine eigenen Reise zu einem guten Körperbewusstsein, woran es liegen kann, wenn man ‚wenig‘ spürt und warum Spüren so wesentlich für unser Wohlbefinden ist.

Bevor ich mit der Körperarbeit begann, hatte Spüren für mich wenig Bedeutung. Ich war sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, mit dem, was meine Sinne über Augen und Ohren aufnahmen. Ich definierte mich stark über mein Wissen, meine Worte und meinen Willen. Mein Körper war dabei eher zweitrangig. Meine Füße bewegten mich fort, meine Hände taten, was ich wollte, mein Mund sagte, was mein Verstand sich ausdachte. Ich war eher nach Außen orientiert, dahingehend, was ich bewirkte. Wenn mein Körper nicht wie gewohnt ‚funktionierte‘ und sich Beschwerden einstellten, war ich ratlos, deprimiert und ärgerlich.

Ich war viel in Gedanken, in Zukunft oder Vergangenheit, im Planen oder Reflektieren, statt im gegenwärtigen Moment. Was mir damals nicht bewusst war: Meine Wahrnehmung war eingeschränkt,  wie über den Verstand gefiltert. Meine Sensibilität, Empfindungen und Gefühle wahrzunehmen, war gedämpft, im Positiven wie im Negativen. Rückblickend gesehen, erlebte ich die Welt damals großteils aus der Perspektive der Beobachterin.

Ich hatte zugleich eine vage Sehnsucht in mir, da müsste noch mehr sein – mehr Fülle, mehr Tiefe, mehr Vielfalt. Heute weiß ich, mir fehlte das Spüren – Düfte, Geschmäcker, Worte, Berührungen, Gefühle kamen nicht in aller Tiefe bei mir an.

Spüren ist Orientierung aus dem Inneren

Die ‚spürende‘ Wahrnehmung unserer Innenwelt ist etwas sehr Komplexes. Es ist eine Kombination aus Tastsinn, Gleichgewichts- und Tiefenwahrnehmung. Ein Geflecht aus Milliarden von Nervenzellen durchzieht unseren Körper, von den Zehen bis zur Schädeldecke. Die taktile Spür-Wahrnehmung findet über die Sinneszellen der Haut statt. Räumliche Orientierung passiert durch das Gleichgewichtsorgan im Innenohr. Die Tiefensensibilität ermöglicht die Wahrnehmung des eigenen Körpers, also das Empfinden über die Position und Bewegung der Körperteile sowie des Körperraumes an sich, über Rezeptoren in Gelenken, Muskeln und Sehnen. Nervenzellen in vielen Bereichen des Körpers leiten unentwegt eine Vielzahl von Empfindungen an das zentrale Nervensystem, Gehirn und Rückenmark. 

Was sehr theoretisch klingt, ist die Voraussetzung für ein echtes Erleben unseres Selbst. Über die fünf Sinne Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken sind wir in der Lage, mit unserer Umwelt zu kommunizieren, uns im Kontakt mit anderen wahrzunehmen. Die spürende Wahrnehmung ermöglicht uns zusätzlich, unseren Körper und seine Bedürfnisse unabhängig von außen zu erleben. Unser ‚Spür-Sinn‘ macht uns also selbst-bewusst in wahrsten Sinn des Wortes, lässt uns von innen heraus erfahren, orientieren und in Folge freier gestalten.

Wann wir unser Spüren unterdrücken

Unser Spüren lässt uns über unsere Sinne Lust und Freude erleben, aber auch Schmerz, Stress und belastende Emotionen. Wie tief und intensiv unser Erleben ist, hat auch damit zu tun, wie gut unser Nervensystem reguliert ist. Diese Regulation lernen wir in früher Kindheit über unsere Bezugspersonen. Frühe und immer wiederkehrenden Belastungen oder nicht ausreichende Regulation verringern den Spielraum, innerhalb dessen wir etwas als angenehm und gut bewältigbar empfinden. Wir halten starke Erregungszustände, seien sie angenehme oder belastende, nicht gut aus. Mehr über Nervensystemregulation und was sie beeinflusst, kannst du in ‚Chronischer Stress und frühe Kindheit‚ nachlesen.

Wenn wir in der Kindheit viel Belastendes erleben, das ‚über unsere Grenzen‘ geht, sei es emotional oder körperlich, dann ‚dimmen‘ wir unser Spüren, desensibilisieren es, eine sehr kluge Reaktion des Körpers, um sich vor Überforderung und Stress zu schützen. Diese Dissoziation, also Abspaltung von Wahrnehmungen, Gefühlen und Körperempfindungen, ist eine Form, traumatische Situationen zu überstehen. Eine Trennung, die in der Situation unsere Rettung war, kann später eine selbstverständliche und tiefe Körperwahrnehmung erschweren. Auch Menschen mit einer Anlage zur Hochsensibilität, die Sinnesreize verstärkt wahrnehmen, können aus Überforderung den Spür-Sinn unbewusst ‚hinunterregulieren‘. Mehr dazu liest du weiter unten.

Der lange Weg ins Spüren

Für mich war die Atem- und Körperarbeit der Wendepunkt. Ich bekam die Möglichkeit, tief in mein Spüren einzutauchen, Schritt für Schritt, etwas, das wir im überwiegend kopfbetonten beruflichen Alltag kaum haben. Davor konnte ich Stunden vor dem Computer verbringen, ohne zu merken, ob ich Durst hatte oder aufs Klo musste.

Ich begann tiefer zu atmen, meinen inneren Körper-Raum zu entdecken, Körperempfindungen feiner wahrzunehmen. Ich entwickelte Freude an meinem Körper-Sein. Es war ein langsamer, nachhaltiger Prozess. Es gab Phasen der Frustration, mein Verstand war sehr gefordert, loszulassen, nicht alles erklären und einordnen zu können. Ich wurde mit meinem tiefen Bedürfnis nach Kontrolle konfrontiert. Aber meine Sehnsucht wurde geweckt, gelockt, genährt, und ich blieb dran.

Es gab viele Schlüssel-Momente am Weg, viele Methoden, die mich unterstützt haben. Neben der biodynamischen Körpertherapie war das Atem-Arbeit, Conscious Dance, Methoden der körperorientierten Meditation und Achtsamkeit wie MBSR oder Formen achtsamer Berührung, alles, was in den Körper und ins Hier und Jetzt des gegenwärtigen Moments bringt. Ein wichtige Erkenntnis am Weg war, mein Tempo zu reduzieren. Spüren braucht Ruhe und Zeit, etwas, das wir im Alltag oft zuwenig haben. Mehr dazu liest du in ‚Slowdown statt Burnout‘.

Solange ich die Intensität im Außen, im Tun, in Projekten und Begegnungen suchte, war ich mit Außenreizen beschäftigt. Als ich mich nach innen wandte, erkannte ich, was mir fehlte, lag in mir – mein eigenes Spüren. Eine neue, grenzenlose und faszinierende Welt tat sich in meinem Inneren auf.

Spüren bedeuten, ganz im Körper zu sein

Solange wir uns innerlich nur eingeschränkt wahrnehmen, ist die Versuchung groß, das über starke Reize von außen zu kompensieren, etwas Essen, Suchtmittel, Medien, Arbeit, Beziehungen oder Extremsport. Wir spüren unsere Bedürfnisse und Grenzen vielleicht nicht so gut, körperlich und emotional, das führt dazu, dass wir uns leicht überfordern oder eine dauerhafte Schutzhaltung einnehmen.

Unser ‚Spürsinn‘ ermöglicht uns eine besondere Verbindung zu uns selbst. Wir können all die Impulse unseres Nervensystems, unsere körperlichen Empfindungen und damit verbundenen Gefühle besser wahrnehmen, die Informationen des ‚Bauchhirns‘, und unsere Intuition wird klarer spürbar. In meinem Fall hat das Schritt für Schritt dazu geführt, meine tiefer liegenden Bedürfnisse zu erkennen, was mir guttat und was ich wirklich wollte. Ich begann meinen Impulsen mehr zu vertrauen, veränderte mich beruflich, gestaltete meine Freizeit anders, öffnete mich für neue Beziehungen und Möglichkeiten.

Intensives Spüren kann auch irritieren. Ich bin empfindlicher und sensitiver geworden. Ich nehme mehr wahr, wie es anderen geht, spüre auch eigenen Schmerz oder unangenehme Gefühle früher und heftiger. Doch dadurch konnte sich mein Körper auch von chronischem Stress, Verspannungen und Entzündungen erholen, denn ich lernte, auf seine Signale richtig und zeitgerecht zu reagieren. Das intensive Wahrnehmen meiner Gefühle und Empfindungen ist nicht immer angenehm, es fordert mich. Doch ich fühle mich heute zentrierter, geerdeter, in mir sicher. Ich spüre mich IN meinem Körper, während ich am Schreibtisch sitzend diese Zeilen schreibe, und alleine das bereitet mir Freude.

Heute weiß ich, ich gehöre zu den ‚Vielspürern‘ und ‚Feinfühlern‘, jenen 15 bis 20% der Bevölkerung, die eine Anlage zur Hochsensibilität haben, eine erhöhte Sensibilität in der Verarbeitung äußerer Reize. Ich habe mich wohl schon als Kind überfordert und überwältigt von Vielem gefühlt, dem Aufwachsen in einer großen Familie, den Gefühlen der anderen, die ich zu intensiv wahrgenommen habe. Das mag dazu beigetragen haben, meinen Spür-Sinn quasi ‚hinunterzuregulieren‘, mich abzutrennen vom Fühlen und Spüren. Über das Geschenk, das in dieser Hochsensibilität liegt, kannst du unter ‚Gehört zu dir, was du spürst?‘ nachlesen.

Natürlich falle ich auch heute noch öfter in alte Muster zurück, ziehe mich in den Kopf oder in Ablenkungen zurück, wenn es unangenehm wird. Aber ich merke es schnell und weiß dann, wie ich mich ins Hier und Jetzt meines Körpers zurückhole.

Spüren als Quelle der Lebenslust

Denn die eigentliche Veränderung ist im Innen passiert, wie ich mich selbst und dadurch auch die Welt wahrnehme, weil ich sie eben viel mehr spüre als beobachte, fühle als denke. Vorher war mein Körper ein Instrument meines Geistes gewesen, ich beurteilte ihn nach seinem Äußeren und beäugte jedes Zeichen eines ‚nicht Funktionierens‘ kritisch. Nun ist er mein Zuhause, ich liebe es mich zu spüren und danke meinem Körper jeden Tag dafür, wie wunderbar er ist.

Mein Körper ist mein Navigator in dieser Welt geworden, der Führer auf meiner Lebensreise. Und während mein Alltag im Vergleich zu früher im Außen weniger vielfältig und temporeich ist, hat er an Tiefe, Spür-Kraft und Intensität gewonnen.

Jede unserer Zellen ist ein kleines Kraftwerk, der Energiefluss in unserem Körper ist ständig in lebendiger Bewegung. Wenn wir uns diesem Fluss hingeben, die wechselnden Gefühle und Empfindungen annehmen, dann erleben wir uns in der ganzen Fülle. Dieses tiefe, sinnliche Spüren ist Quelle unserer Lebenslust.

Wer sich gut spürt, ist unabhängiger davon, wie andere Menschen denken oder handeln, welchen Job oder welchen Partner man hat, ob die eigene Geschichte ein Drama war. Denn wer sich gut spürt, erlebt, dass man in jedem Moment, im Hier und Jetzt, seine Geschichte neu schreibt.

Weil du, und nur du, diesen einen Platz in deinem Körper und auf dieser Welt einnimmst. Weil du, und nur du, alles in dir und um dich auf diese eine Weise erlebst. Weil du, und nur du, dich in jedem Atemzug in deiner Einzigartigkeit erfährst.

Dich spüren macht das Leben kraftvoller, sinnlicher, reicher, positiver, lebendiger. Denn dadurch bist du in jedem Moment mit der Liebe deines Lebens in Verbindung – mit dir selbst.

Go inside and listen to your body
because your body will never lie to you.
Your mind will play tricks,
but the way you feel in your heart, in your guts,
is the truth.

Don Miguel Ruiz

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Sabine

    ❤ sooo schön! ❤

  2. Karin Nikbakht

    Liebe Claudia,

    das hast du wundervoll beschrieben! Ich bin begeistert wie du deinen Weg gehst & dein Gold entpackst…. es fühlt sich wunderschön an!!!

    alles Liebe zu dir!

    Karin

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