An ihrem ersten Todestag spüre ich meine Mutter nahe bei mir. Ich bin froh über den Frieden, der in mir ist. Der Abschied von ihr, der Trauerprozess, war lang und schwer. Er begann schon bevor sie starb, in einer Phase längerer Krankheit. Diese Zeit hat viel in mir berührt und verändert.
Der Tod ist die große Schwelle, mit jedem Atemzug üben wir ihn, ob wir wollen oder nicht, lassen Vergangenes los. Dennoch fällt uns der Abschied am Ende so schwer. Unsere Endlichkeit ist ein unbequemer Begleiter. Egal ob und welche Vorstellungen wir vom Leben danach haben, es bleibt ein Geheimnis.
Wir Menschen entwickeln und begreifen uns von Beginn an über die Beziehung zu anderen. Da bleibt es nicht aus, dass der Tod von nahen Menschen uns tief berührt. Da ist die Trauer, sie zu verlieren, ihre Nähe, ihre Gegenwart, ihre Einmaligkeit. Da ist die Erinnerung an unser eigenes Vergänglichsein. Da ist die Herausforderung, loszulassen und etwas absolut Unveränderliches anzunehmen.
Die Trauer des Kindes in uns wandeln
So ein Abschied kann viel alte Traurigkeit in uns berühren. Gerade wenn die eigenen Eltern gehen, mischt sich in die Trauer des Erwachsenen oft die des Kindes, das wir einmal waren. Alte, meist gut vergrabene Erinnerungen werden hochgeholt, manche davon vielleicht längst vergessen. Da ist nicht nur Liebe, Geborgenheit und Wohlgefühl. Wir spüren Ohnmacht, Verlust, Einsamkeit, hilflose Wut, Enttäuschung, Angst. Erfahrungen, die wir als Kinder gemacht haben, die vielleicht unverarbeitet geblieben sind, die uns prägen.
Der Tod gibt uns eine neue Chance hinzuschauen. Die alten Gefühle, die die Trauer hochspült, dürfen neu gespürt, beweint und bewertet werden. Wir dürfen erschüttert sein, gebeutelt, eine Weile die Fassung und Kontrolle verlieren, uns vom Fluss der Tränen reinigen lassen. Sie transportieren Spannung und Schmerz aus dem Körper, helfen uns, die alten Geschichten und hinderlichen Muster loszulassen, frei zu werden für das Neue. Und so kann der Trauerprozess um einen nahen Menschen tatsächlich auch ein Neuanfang für uns selbst sein, ein Initiator für einen inneren Wandlungsprozess, ein Stück heiler und ganzer zu werden.
Von der grenzenlosen Liebe die bleibt
Auch wenn sie mir sehr fehlt, heute kann ich die Geschenke erkennen, die für mich im Abschied von meiner Mutter liegen. Ich bin dankbar für alle Gefühle, die ich durchleben und wandeln durfte. Ich bin dankbar, wie lange und tiefgehend wir Abschied nehmen konnten, und wie sehr diese Erfahrung mein Leben bereichert. Ich bin dankbar für die neue Beziehung, die ich zu mir und ihr gefunden habe.
Wenn ich sie sehr vermisse, dann trage ich gerne eines ihrer Kleidungsstücke, die bunt und auffällig waren, hülle mich in eines ihrer weichen Schultertücher. Und dann spüre ich, wie ihre Liebe mich umhüllt, warm und weit. Vielleicht spüre ich sie sogar besser als je zuvor, jetzt, wo die Liebe grenzenlos ist, immer präsent, wenn ich sie brauche, weder von bestimmten Worten noch Taten abhängig. Ich fühle mich tief mit ihr verbunden, frei von Raum und Zeit.
Das bleibt, wenn wir gehen: Liebe in ihrer reinsten Form. Die spürbare Essenz des anderen, wenn wir bereit sind, uns für sie zu öffnen. Alle Anhaftungen, Verletzungen, Blockaden, dunklen Gefühle und belastenden Geschichten lösen sich auf. Egal woran wir glauben, am Ende dieses irdischen Lebens zählen sie nicht mehr. Es liegt an uns, die bleiben, uns dafür zu öffnen, und es ist nie zu spät dafür.
Der Tod lädt zum Leben in Fülle
Meine Mutter war eine Meisterin des Augenblicks, darin, das Glas immer halbvoll zu sehen. Ich werde nie ihre Worte vergessen, als sie halbseitig gelähmt nach einem Schlaganfall im Krankenhaus lag und dennoch freudig meinte ‚…weißt du, ich bin draufgekommen, ich kann meine Zehen noch bewegen‘. Das ist ihr Vermächtnis: Dass es sich lohnt, immer wieder von vorne anzufangen. Dass es in jedem noch so düsteren Moment einen Sonnenstrahl gibt. Dass kein Ende ohne Neubeginn bleibt. Wenn ich mich am Boden fühle, tröstet und ermutigt mich dieser Satz, neu aufzustehen.
Meine Mutter erwarb sich damals nach einigen Monaten im Rollstuhl wieder ein weitgehend selbständiges Leben. Sie meinte oft, der Schlaganfall sei ihr zweiter Geburtstag gewesen. Sie lebte noch zehn sehr erfüllte Jahre. Sie schien jeden Tag zu genießen. Und wenn es nur die Sonne im Gesicht war, ein Glas Rotwein, das Zwitschern der Vögel. Und weil sie so sehr auf das Positive fokussierte, war selbst der chronische Schmerz, den sie spürte, und die Beeinträchtigung ihres Gehvermögens, für sie nicht wichtig.
Der Tod ist ein großer Lehrer: Er ist die Einladung an uns, unser Leben und unsere Potenziale intensiv zu leben, im Hier und Jetzt, in Fülle. Er fordert uns auf, uns immer wieder neu, mutig und kompromisslos für unsere Lebendigkeit zu entscheiden. ‚Was und wie willst DU wirklich leben?‘ lautet seine Frage.
Ihre Antwort finden wir in der Tiefe unserer Herzen.
Ihr möchtet das Geheimnis des Todes kennenlernen.
Aber wie werdet ihr es finden,
wenn ihr nicht im Herzen des Lebens selber sucht?
Khalil Gibran ‚der Prophet‘