Ich sage es offen: Wenn Kinder leiden, kommen mir die Tränen. Lange arbeite ich schon mit viel Einsatz in einer großen Organisation für Kinder. Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen, die Gewalt oder Vernachlässigung erfahren haben, Diskriminierung oder Not. Mich hat ihr Schicksal immer sehr berührt. Ich brannte leidenschaftlich für diese Arbeit, ohne zu wissen warum.
Dann habe ich mich der therapeutischen Arbeit zugewandt, und damit dem traumatisierten Kind in jedem von uns. In meiner körpertherapeutischen Ausbildung kam ich immer tiefer mit dem Kind in mir in Kontakt, spürte seine Bedürfnisse und Gefühle. Ich hatte lange geglaubt, meine Kindheit wäre perfekt gewesen. Nun durfte ich Mangel, Ohnmacht, Zorn, Traurigkeit und Angst auch in mir spüren. Ich sage bewusst ‚durfte‘, denn ich empfinde es als Geschenk, diese Gefühle wahrzunehmen. Durch jedes Fühlen passiert Veränderung in mir. Mit jeder Illusion, die ich gehen lasse, komme ich mir selbst ein Stück näher.
Was wir sehen und was nicht
Manche Not im Außen ist offensichtlich. Gerade Dramen rund um Kinder, hungernde, flüchtende, kranke, von Ausbeutung oder Krieg betroffene, berühren uns tief. Manchmal lassen sie uns auch die Tränen weinen, die wir für uns selbst nicht haben.
Denn es gibt Trauma, das keiner sieht. Viele Menschen tragen ihr Leben lang Erfahrungen mit sich, von denen sie selbst nichts mehr wissen. Aber ihr Körper erinnert sich, und ihre Lebensgeschichte, ihr Verhalten ist dadurch unbewusst beeinflusst. Oft besteht die größte Verletzung darin, dass das Leid von niemandem wahrgenommen und erkannt wird, auch nicht von ihnen selbst. Man bleibt damit allein.
Was ich nicht sehen kann, dient mir. Jede gelöschte Erinnerung, jede idealisierte Vorstellung, möchte mich schützen, vor Schmerz bewahren. Zugleich aber schaue ich damit aus einer geschönten Perspektive auf die Welt, abgetrennt vom eigenen Leid glaube ich zu wissen, wie sie funktioniert, was Gut und Böse, richtig oder falsch ist. Das Drama der Kinder dieser Welt ist leichter zu betrauern, wenn wir eine gewisse Distanz dazu haben. Sie schützt vor dem eigenen Schmerz.
Lebenssinn und Leidenschaft
Mitgefühl, ein offenes Herz, sind daher ungemein wertvoll in dieser Welt. Sie signalisieren, dass wir sehen wollen, was wirklich ist. Sie schicken heilsame Energie ins kollektive Feld und tragen so zum Wandel bei. Doch erst, wenn wir diese Energie, diese Bereitschaft zu sehen, auch uns selbst schenken, bereit sind auch den eigenen Schmerz zu fühlen, finden wir den Frieden echter Versöhnung in uns.
Leid kann ein starker Motor und Antrieb für Veränderung sein. Wenn wir Leid erfahren haben, dann gibt es in uns dieses kompromisslose Wissen, dass das nie wieder geschehen darf. Dafür werden wir uns einsetzen, das treibt uns an. Nicht umsonst steckt im Wort ‚Leidenschaft‘ das Leid. Es schafft Begeisterung, Passion. Etwas wofür es sich zu leben lohnt, an das ich glaube, das mich zutiefst berührt und so sehr beflügelt, dass ich dafür immer wieder aufstehe, weitergehe. Du kannst es auch ‚Sinn des Lebens‘ nennen.
Jeder braucht so einen Sinn. Was aber, wenn dahinter deine größte Verletzung verborgen ist? In einem früheren Artikel schreibe ich ‚von Wunden und ihren Perlen‚ davon, warum in unserem größten Schmerz oft unser größtes Potenzial liegt. Genau daraus entsteht sie, die Leidenschaft, Licht und Veränderung in dieser Welt zu sein.
Von Dunkel und Licht in uns
Wofür brennst du? Und was möchtest du damit bewegen, vermeiden, verändern? Wo in dir ist vielleicht noch Grenze statt Öffnung, Kampf statt Liebe, Schatten statt Licht?
Ich habe die Erfahrung gemacht, solange der eigentliche Kern meines Engagements im Dunklen liegt, kann meine Leidenschaft tatsächlich Leiden schaffen. Ich brenne aus, indem ich meine Bedürfnisse und Grenzen oder die anderer missachte. Ich projiziere mein nicht wahrgenommenes Drama und meine Unzulänglichkeiten auf andere. Aus meiner eigenen Opferperspektive sehe ich nur Bedrohung, urteile und klage Täter an, statt mein Herz für alles zu öffnen und neue Wege des Miteinander zu finden. Aus Angst, mit meinem tiefsten Schmerz in Berührung zu kommen, sabotiere ich mich selbst immer wieder, schöpfe mein Potential nie ganz aus.
Die Heilung die wir brauchen
Hinzuschauen, vor allem auch hinzuspüren und hinzufühlen in unser Inneres ist heilsam. Es schafft Verständnis für mich und meine Geschichte, meine Gefühle und Grenzen. Es lässt mich Frieden schließen mit der, die ich bin, und zugleich in mein Potential hineinwachsen. Es bringt meine blinden Flecken ans Licht, transformiert sie und erweitert meinen Wahrnehmungsraum und meine Möglichkeiten. Mit jeder im Körper gefühlten Erkenntnis gewinne ich neue Freiheit, mich selbst zu verändern, mein Leben zu gestalten. Sie verbindet mich mit dem Kern in mir, aus dem meine wahre Kraft kommt.
Das ist es, was die Kinder dieser Welt wirklich brauchen: Dich in deiner Kraft. Wenn du die Fähigkeit hast, deinen eigenen Schmerz zu transformieren, wie groß ist dann dein Potential, die Welt zu einem besseren Ort zu machen?
Wir alle waren einmal Kind. Folge ihm. Es hat den Schlüssel, der dir die Tür zu deinen höchsten Möglichkeiten öffnet.
Du hast deine Kindheit vergessen,
aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich.
Hermann Hesse ‚Narziß und Goldmund‘