Im Tanz von Trennung und Verbundenheit

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Wie ging es euch in dieser sehr speziellen Zeit des Corona-Shutdowns? Ich habe meine tiefe Sehnsucht nach persönlichem Kontakt und Berührung mit Menschen gespürt. Verbundenheit auf Distanz bleibt eine Herausforderung. Und während ich die Nähe mit meiner Kernfamilie genossen und geschätzt habe, ist sie mir manchmal auch eng geworden. Dann hatte ich den Drang, alleine zu sein, unabhängig und selbstbestimmt. Distanz und Nähe, Trennung und Verbundenheit, zwei Kräfte die in mir ziehen… ja wohin?

Ich fange ganz von vorne an: Biologisch betrachtet, entsteht unser Leben aus der Verschmelzung von Zellen, die sich dann wieder teilen, bis sich daraus der Embryo formt. Neun Monate ist er eins mit dem dunklen Universum des Uterus. Dann ist das Zwängen durch den engen Geburtskanal unvermeidlich. Unser Leben als Mensch beginnt mit einem Akt der Trennung.

Wir definieren uns und die Welt über Abgrenzung. Das ist so und das ist anders. So lernen Kinder denken, benennen, die Welt verstehen. Unterscheiden ist uns also grundgelegt und zutiefst menschlich. Es schafft Identität. Wir sind einzigartig, weil wir anders sind.

Das Pendel schwingt

Und doch sehnt sich unser Herz immer nach liebevollem Miteinander, schwingen die Spiegelneuronen im Gehirn in empathischer Resonanz, suchen wir uns im kosmischen Orgasmus aufzulösen. Und am Ende zerfallen wir zu Staub, werden wieder Teil der Erde. Unsere Form verschwindet. War alles nur Illusion?

Es ist eine spannende Reise, die wir Menschen antreten, wenn wir aus dem grenzenlosen Universum in den begrenzten physischen Körper eintauchen. Von Anfang an pendeln wir ständig zwischen dem ‚weg von‘, das unser individuelles Sein ermöglicht, und dem ‚hin zu‘ des gemeinschaftlichen Miteinander.

Kinder zeigen das gut in ihrer Entwicklung. Sie brauchen die symbiotische Nähe der Eltern, und erproben zugleich lustvoll ihren eigenen Willen. Weil ihre Forderungen und ihre Gefühle unendlich scheinen, benötigen sie liebevolle und doch klare Grenzen, sich selbst zu spüren.

Auch gesellschaftlich prägen uns diese Gegensätze. Wettbewerb und Individualismus dominieren die Wirtschaft, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit gewinnen Wahlen. Abgrenzung beherrscht uns in einer globalen Welt, die virtuell und wirtschaftlich vernetzter und verbundener ist als je zuvor. Gerade Corona zeigt das deutlich auf: Ein Virus, der sich über die Welt ausbreitet, uns alle verbindet und betrifft. Und während wir uns durch soziale Distanz und räumliche Trennung zu retten versuchen, wächst die virtuelle Verbundenheit, entsteht spontane Solidarität, neue Kooperation und Miteinander. Doch so schnell wie die gemeinsame Vision wachsen auch Spaltung, Entfremdung und soziale Gegensätze.

Der Fall aus dem Paradies

Liebevolle Beziehungen und fürsorgliches Miteinander sind tatsächlich eine Grundsäule psychischer und körperlicher Gesundheit. Sie regulieren uns, steigern unser Wohlbefinden und Glücksgefühle. Isolation, Einsamkeit und Kontaktlosigkeit dagegen lassen uns abgetrennt und verloren fühlen. Das kann zu gesundheitlichen Beschwerden, erhöhtem Stress, Angst oder Depression führen. Nur solange Kontakt und Zugehörigkeit selbstverständlicher Teil unseres Lebens sind, streben wir gerne und ungehindert nach Autonomie.

‚Trauma ist die Erfahrung von Trennung‘, sagt der Begründer der körperorientierten Trauma-Therapie ‚Somatic Experience‘, Peter Levine. Trennung vom eigenen Körper, von uns selbst, vom anderen, von unserer Lebendigkeit.  Also liegt in der Wiederverbindung die Lösung. Eine Wunde ist ein Schnitt. In der Heilung verbindet sich das Gewebe neu.

Wenn wir die physischen Atome, aus denen wir bestehen, in ihre kleinsten Einheiten verfolgen, landen wir bei  Energie-Wirbeln. Als Energie sind wir alle verbunden und Teil eines Ganzen. Wenn also die Verbundenheit das Paradies ist, nach dem wir uns sehnen, warum wiederholen wir die Geschichte von Adam und Eva immer wieder neu?

Was uns fehlt

Was dich begrenzt, gibt dir deine Form. Dieser schöne Satz von Antoine de Saint-Exupéry hat mir eine wichtige Erkenntnis beschert. Ich brauche die Verbindung zu anderen, und ich brauche es, mich als von ihnen getrennt zu erleben. Darüber erfahre ich mich als anders und besonders.

Und genau diese Anerkennung der Einzigartigkeit und Großartigkeit unseres So-Seins wird uns heute meist verwehrt. Wir streben zwar nach Individualität, aber eigentlich ist es besser, in der Masse nicht aufzufallen. Wir verstecken unsere Besonderheit, bleiben Durchschnitt, Angst vor Bewertung hält uns klein, und hält uns davon ab, unser Potential zu leben. Und wenn ich selbst nichts Besonderes sein darf, meine Einzigartigkeit nicht selbstverständlich zeigen, wie kann ich es dann den anderen erlauben?

Das Differenzieren und Kategorisieren, das unser Gehirn so früh lernt, führt allzu leicht ins Bewerten und Urteilen. Gut und Böse, richtig und falsch, arm und reich, in and out. Genau das traumatisiert unsere Welt, auch im Großen, Neid und Bewertung und Dominanz führt zu Konflikt und Kriegen, Umweltzerstörung und globale Krisen. Unser kollektives Trauma reicht weit in die Geschichte zurück.

Miteinander tanzen lernen

Wenn wir sagen ‚Trennung schlecht – Verbundenheit gut‘, fallen wir in dasselbe Schema. Es braucht immer wieder beides, das auseinander, die Differenzierung, um sich dann wieder neu und bewusst zu integrieren, zusammenzusetzen. Dieser Tanz ist Teil von Entwicklung. Daher braucht es Räume, gesellschaftlich und in jedem von uns, Anderssein und Vielfalt wertzuschätzen.

Lasst uns das Fremde aneinander ehren. Lasst uns die Unterschiede feiern. Geben wir uns die Erlaubnis, anders zu sein. Denn in unserer Einzigartigkeit sind wir zutiefst verbunden – mit uns selbst, miteinander, mit dem Universum.

Begegnung, Berührung und emotionale Bindung sind essenziell für unser Wohlbefinden, unsere Entwicklung, unser Menschsein. Die Erfahrung des In-Beziehung-Seins mit uns selbst und allem ist wesentlich für persönliche und gesellschaftliche Heilung, für eine echte Vision von Miteinander und Gemeinschaft. Wenn wir uns als Teil der Erde und der Menschheit verstehen, werden wir mit ihr liebevoll und sorgsam umgehen, weil wir nur gemeinsam heilen.

Meine Erfahrung aus der Körpertherapie zeigt mir, dass echte Verbindung mit anderen erst dann möglich ist, wenn ich mich gut mit mir selbst verbunden habe. Wenn meine Grenzen selbstverständlich sind und sein dürfen, ich die eigene Präsenz gut spüre, gut verkörpert bin, fühle ich mich sicher genug für Resonanz. Dann bin ich fähig und bereit meine Sinne für den anderen zu öffnen, dann nehme ich meine Gefühle und die des anderen wahr, dann kann ich vertrauensvoll Teil von etwas sein. Und so wird echte Begegnung und Beziehung erst möglich. In diesem ‚ganz bei mir sein‘ bin ich mit dem jetzigen Moment und mit dem anderen unendlich verbunden.

So schwingen Trennung und Verbundenheit gemeinsam als Eins. Meine Einladung an dich: Wage den Tanz! Er ist magisch. Und vertraue dabei deiner Sehnsucht, wo immer sie dich hinzieht. Sie könnte dich tatsächlich in dein höchstes Potential führen.

Wir sind alle Engel mit nur einem Flügel.
um fliegen zu können,
müssen wir einander umarmen.

Luciano De Crescenzo

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