Kennst du das, dich verletzt, enttäuscht, ängstlich, zornig, überfordert, gestresst oder fremd zu fühlen? Ich schon. In solchen Momenten scheint die Welt böse und kalt, und es braucht eine Zeit, meine Balance wieder zu gewinnen. Heute weiß ich, es sind kindliche Anteile in mir, die da aktiviert werden, mein ‚inneres Kind‘, das sich meldet. Jene Anteile und Prägungen, die als Reaktion auf emotionale Verletzungen in der Kindheit oder sogar davor (Geburt, Schwangerschaft) entstanden sind. Ich nenne es gerne auch mein ‚inneres Waisen-Kind‘.
Verletzung, Mangel und inneres Kind
Unser ‚inneres Kind‘ ist bei vielen von uns verwundet. Bedürftig. Zu kurz gekommen. Verlassen und einsam. Vor Schreck erstarrt. Hilflos wütend. Als Kind waren wir überwältigt und alleine mit diesen Gefühlen und Belastungen. Und wir haben versucht damit zu leben, uns anzupassen, zu vergessen.
Doch das funktioniert nur scheinbar. In unseren Zellen steckt noch immer die Erinnerung an belastende Erfahrungen aus der Kindheit, sie sind im Körper gespeichert. Sie beeinflussen, meist unbewusst, unsere Gefühlswelt und unser Verhalten. Sie halten uns in einer gedanklichen und gefühlsmäßigen Negativspirale fest. Wir reagieren dann oft automatisch aus den alten Gefühlen heraus, und unser ‚inneres Kind‘ wiederholt seine Muster.
Oft sind es grundlegende Bedürfnisse nach Nähe, Mitgefühl, liebevoller Berührung und genährt werden, die nicht ausreichend befriedigt worden sind. Vielleicht waren Geschwister da, die Aufmerksamkeit gebraucht haben, oder die Eltern waren wenig anwesend. Krankheit, Konflikte, Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Sucht können Gründe sein, dass Kinder nicht ausreichende Bindung erfahren. Eltern, die selbst Bindungstraumata haben, können emotional unzugänglich sein oder sich nicht regulieren können. Kinder erleben, dass ihre Grenzen emotional oder auch körperlich verletzt werden. Sie erleben Situationen, in denen sie sich beschämt oder bewertet, überfordert, bedroht, gestresst oder ohnmächtig fühlten. Und in den meisten Fällen sind sie mit ihren Erfahrungen, Gefühlen und Sorgen allein gelassen, keiner sieht und unterstützt sie, nimmt wahr, wie es ihnen geht.
Unterdrückte Gefühle verkörpern sich
Für das Kind sind die daraus resultierenden Gefühle, Zorn, Traurigkeit oder Angst, Scham oder Hass übermächtig, grenzenlos und unkontrollierbar. Es beginnt sie zu unterdrücken, seine Impulse zurückzuhalten, umso mehr, wenn uns die Außenwelt spiegelt, dass sie nicht in Ordnung sind. Kleine Kinder werden oft gemahnt, wenn sie Wutausbrüche oder Angst haben. Vielleicht weil wir nicht wahrhaben wollen, dass sie ein Spiegel für unsere eigenen unterdrückten Gefühle sind. Wir durften es auch nicht fühlen. Bis heute nicht.
Stark negative und sich oft wiederholende Erfahrungen und Gefühle, die wir nicht ausdrücken, die von unserem Umfeld nicht wahrgenommen und reguliert wurden, arbeiten in uns weiter. Sie setzen sich in Form von Spannung, Schmerz, Starre, Druck oder Taubheit in unserem Körper fest, verschlacken ihn quasi und blockieren unsere Lebensenergie. Wie diese Kindheitserfahrungen unser Nervensystem prägen und belasten, liest du unter ‚Chronischer Stress und frühe Kindheit‚.
Das klingt sehr dramatisch und war es auch. Für jene Anteile in uns, die mit dieser Situation als ‚inneres Kind‘ noch gebunden sind, ist es das heute immer noch. Und während wir im Außen als Erwachsene unauffällig funktionieren und ein scheinbar gutes Leben haben, vieles tatsächlich vergessen oder umgedeutet haben, geht der Kampf in unserem Inneren unterschwellig weiter.
Dein inneres Kind körperlich befreien
In der Körpertherapie dürfen die gehaltenen Gefühle dieser Kind-Anteile in uns in ihrem körperlichen Ausdruck sichtbar werden. Hinspüren, wahrnehmen und erlauben dieser unangenehmen und in unserer Gesellschaft oft nicht akzeptierten Gefühle ist der Schritt, der alles verändern kann.
Nicht wahrgenommene und ausgedrückte Traurigkeit kann in die Depression führen, als würden wir dauerhaft im Schatten gehen, und könnten die Sonne nicht mehr sehen. Es kann sehr gut tun, Tränen wie einen reinigenden Regenschauer rinnen zu lassen, bis die Nebel sich lichten. In der Wut, die uns vielleicht vernichtend und sinnlos erscheint, ist viel Lebenskraft und Ausdrucksmöglichkeit gehalten. Wenn sie da sein darf, und sei es nur in Gedanken und Bildern, lösen wir die alte Erstarrung, bekommen Zugang zu unserer Vitalität und tiefer liegenden Gefühlen. Mehr über diesen Prozess liest du in ‚Die Lebenskraft Aggression achtsam frei lassen‚.
Aus der Erwachsenen-Perspektive sind wir geneigt, alte Ängste als lächerlich oder übertrieben abzutun, doch als Kind hatten sie ganz reale Auslöser. Wenn sie sich zeigen dürfen, gespürt werden, lösen sich tiefe Spannungen in unserem Nervensystem, erlauben wir unserem Körper, sich zu regulieren und zu beruhigen. Wenn wir zu unseren Kindheits-Wunden und Schmerzen heute hinspüren, sie als Teil von uns annehmen, dann ist das eine große Erlösung. Teile von uns werden wieder zugänglich, die wie abgespalten, getrennt, fremd waren. Das ist nicht nur emotional so, tatsächlich können wir das auch körperlich wahrnehmen, dass wir wieder mehr Energie haben, sich Spannungen lösen, sich taubes fühlloses Gewebe lebendiger anspürt.
Selbstkontakt heilt dein inneres Kind
Im Kern jeder traumatischen Erfahrung liegt Trennung und Kontaktlosigkeit, die Beziehung zu mir und anderen ist in irgendeiner Form unterbrochen und gestört. Beziehungsabbruch ist wahrscheinlich mit das Schlimmste, das Kinder prägen kann. Sie nehmen diese Erfahrung in sich hinein, übernehmen selbst die Verantwortung für das, was ihnen passiert ist, und unterbrechen auch den Kontakt mit sich selbst, um nicht zu fühlen, was war.
Sich selbst also gute Mutter bzw. guter Vater zu sein ist daher ein Schlüssel zur Heilung unserer verletzten Kind-Anteile, und zugleich die größte Herausforderung, der ‚blinde Fleck‘ in uns. Wenn wir dazu fähig sind, Elternschaft für uns selbst zu übernehmen, einen fürsorglichen, liebevollen, starken Erwachsenen-Anteil in uns zu etablieren, dann verändert das alles. Ich warte nicht mehr darauf, in meiner Not gesehen zu werden, sondern nehme mich selbst und meine Bedürfnisse wahr. Ich warte nicht mehr darauf, dass das, was ich brauche, von außen kommt, ich gebe es mir selbst. Denn nur ich habe das so erlebt, keiner sonst, für mich ist mein Schmerz wahr, und ich würdige ihn.
Ich bin mir selbst Stütze und Trost. Ich halte mich liebevoll. Ich halte zu mir. Ich gebe meinen vernachlässigten und verletzten Kind-Anteilen einen guten und geschützten Platz. Ich akzeptiere sie, wie sie sind, lasse sie sein, will sie und damit mich selbst nicht mehr anders haben. Diese Selbstannahme und Selbstakzeptanz ist so wichtig. Für diese Momente des liebevollen dich selbst Haltens und Unterstützens gebe ich dir den wunderschönen Song von Jai Jagdeesh ‚In Dreams‘ mit.
Ich atme auf. Meine Zellen öffnen sich. Wer, wenn nicht ich selbst, kann mir erlauben ganz ich selbst zu sein? Mir sagen, dass ich genau richtig bin und immer schon war? Denn das hätte ich gebraucht, damals, als Kind, und mein ‚inneres Kind‘ braucht es noch heute. Dass jemand sagt ‚du bist genau richtig und wundervoll. Deine Gefühle sind in Ordnung. Ich sehe dich in deiner Not. Ich liebe dich genauso.‘
Die Schatztruhe für mein inneres Kind öffnen
Die verletzten Anteile, die mein inneres Kind hat, zu spüren, anzunehmen, ihnen mein Herz zu öffnen, macht mich ganzer, lebendiger, erweitert meine Möglichkeiten. Es öffnet mich erst für das Besondere und Einzigartige, das ich bin. Meine frühen Verletzungen sind tatsächlich eine Schatztruhe.
Den Deckel draufzuhalten ist anstrengend. Gefühle zurückzuhalten, Impulse zu unterdrücken, macht müde und innerlich eng. Mir selbst mein Herz zu öffnen, mir selbst Liebe und Wertschätzung zu schenken, löst die alten Belastungen. Die Energie all dieser Gefühle und Erfahrungen frei durch den ganzen Körper fließen zu lassen, ist eine große Erleichterung. Ich darf mich zeigen und sein, wie ich bin.
Wenn ich die Gefühle meines ‚inneren Waisen-Kindes‘ so fließen lasse, sind sie willkommen, und dürfen dann wieder gehen, wie Ebbe und Flut. Sie sind ein Teil von mir, aber sie dominieren mich nicht. Sie sind aus meiner Geschichte entstanden, aber sie müssen nicht meine Zukunft sein.
Dann erwarte ich von anderen nicht mehr, meine gefühlten Löcher und Defizite zu füllen, und so fallen viele Projektionen im Außen weg. Wenn ich eine liebevolle und vertrauensvolle Beziehung mit mir selbst pflege, mich und meine Gefühle einfach annehme, fällt mir das auch mit anderen leichter.
Und plötzlich ist die Verbindung mit jenen Anteilen, die unverletzt geblieben sind, selbstverständlich, das ‚Sonnen-Kind‘, der heile Kern in mir wird zugänglich. Es sind die starken, freien, selbstbewussten und lebensbejahenden Kind-Anteile, die jetzt ans Licht kommen. All das Ursprüngliche, das jedes Kind mit seiner Geburt mit auf die Welt bringt, bekommt Raum: Lachen und Staunen, Freude und Hingabe, Neugierde und Spontanität, Kreativität und Intuition, alle unsere uns innewohnenden natürlichen Fähigkeiten, unsere Liebe zum Leben.
Und dann wird mein ‚inneres Kind‘ zur Kraftquelle von Lebendigkeit und Fülle, die mein Leben für immer bereichert.
The biggest embrace of love
you will ever make in your life
is embracing yourself completely
Adyhashanti