Wie geht es dir mit Grenzen? Wie gut und selbstverständlich kannst du sie wahrnehmen? Und willst du das überhaupt?
Ich habe Grenzen früher gerne unbewusst ausgereizt, sie sogar als hinderlich oder provokant erlebt. Heute weiß ich, mein Tanz mit den Grenzen war der Versuch, mich besser zu spüren. Seit ich ganz bei mir und in meinem Körper angekommen bin, kann ich anerkennen, wie wichtig Grenzen sind. Meine Körpergrenze definiert meinen persönlichen Raum. Ohne sie wäre ich nicht präsent, in dieser einzigartigen Form.
Ohne klare Grenzen gibt es keinen klaren Raum. Ich vergleiche das gerne mit einem Fluss in seinem Bett. Die Ufer geben dem Wasser Halt. Ohne sie würde es zerrinnen, in der Erde versickern. Im Flussbett kann es sich ausdehnen, frei fließen, weil es gut gehalten ist.
So ist das auch mit der Energie im Körper. Je klarer und selbstverständlicher die Wahrnehmung meiner Grenzen, physisch, mental, emotional, energetisch, desto freier kann die Lebensenergie in mir fließen. Ich gebe mir innerlich das Signal ‚Du bist gut gehalten. Du bist sicher. Dir kann nichts passieren.‘ Ganz so wie ein Kind in den Armen der Eltern spürt, dass es geborgen ist, egal was passiert und wie es sich verhält.
Grenzerfahrung der Verbundenheit
Tatsächlich erfahren wir unsere körperlichen Grenzen als erstes über die Eltern und engsten Bezugspersonen. Zuerst als Embryo im Mutterleib, dann über das Tragen und Halten, über Umarmungen. Achtsame und liebevolle körperliche Berührung bringt die Lebendigkeit ins uns zum Fließen, das Kuschelhormon Oxytocin wird ausgeschüttet, unser System beruhigt und entspannt sich. Jede Zelle reagiert mit Öffnung, Wärme und Wohlgefühl. Zugleich bekommen wir ein inneres Bild unseres Körpers und seiner Grenzen, unsere Tiefenwahrnehmung bildet sich. Wo der andere beginnt, hören wir auf. Wir erleben über die Berührung unsere eigenen Grenzen und die des anderen, spüren also Verbundenheit und lernen gleichzeitig, dass wir auch getrennt, als Individuum existieren.
Was passiert jedoch, wenn wir früh erleben, dass unsere Grenzen nicht gewahrt werden, nicht sicher sind? Wenn wir keinen oder zu wenig Halt erfahren? Was wenn Berührungen, Worte oder Blicke uns einengen, oder gar in uns eindringen und uns verletzen? Viele haben erlebt, dass ihr Widerstand in der Kindheit gebrochen wurde. Das lustvolle Ausprobieren und Erforschen der eigenen Grenzen war nicht erlaubt oder wurde sogar bestraft. Doch wir brauchen die Erfahrung, anders sein zu dürfen, einen eigenen Willen zu haben, um Selbständigkeit und Selbstwert zu entwickeln.
Menschen mit schwierigen frühen Bindungserfahrungen haben oft ein ambivalentes Verhältnis zu Grenzen. Auch zu ihren eigenen. Sie entwickeln sehr unterschiedliche Kompensationsstrategien, mit frühen Grenzverletzungen oder dem Mangel an gesetzten Grenzen umzugehen.
- Es kann sein, dass wir Grenzen einfach nicht wahrhaben wollen, unseren eigenen Raum, der ja nicht sicher war, energetisch verlassen, und uns am liebsten mit der Unendlichkeit des Universums verbinden. Wir sind im wahrsten Sinn des Wortes grenzenlos.
- Es kann sein, dass wir gelernt haben, unsere Aufmerksamkeit mehr auf die anderen und ihre Grenzen zu richten, um unseren Raum zu schützen. Wir sind dann sehr gut darin, die Bedürfnisse der anderen wahrzunehmen und zu erfüllen, aber die eigenen werden leicht missachtet.
- Es kann sein, dass wir Grenzerfahrungen bewusst suchen und unsere Grenzen immer wieder schmerzhaft austesten, über Konflikte, Suchtmittel oder Extremerfahrungen.
- Oder wir sorgen selbst dafür, sicher zu sein, in dem wir Grenzen übertrieben eng und rigide stecken, sie gut kontrollieren, und das auch von unserem Umfeld erwarten.
Egal ob wir uns zu viel oder zu wenig Raum nehmen, als aufgelöst oder eingesperrt empfinden, oder ob wir die Existenz von Grenzen einfach ignorieren: Es prägt unser Körperbewusstsein und unser Beziehungsleben.
Berührung mit der Welt um uns
Denn die Körpergrenzen sind der Berührungspunkt mit der Welt um uns. Jede Begegnung mit anderen ist ein Tanz an den Grenzen. Sind sie klar und dennoch flexibel, können wir harmonisch miteinander in Resonanz sein. Wenn ich mich nicht klar spüre, kann es auch in Beziehungen immer wieder zu Grenzverletzungen kommen. Wie kann ich anderen vertrauen, meine Grenzen zu achten, wenn ich meine eigenen nicht gut wahrnehmen kann? Je besser ich in meinem eigenen Körper zuhause und verankert bin, desto unabhängiger bin ich vom Außen, desto leichter fällt es, meine Bedürfnisse zu spüren und klar auszudrücken, gute Grenzen zu setzen und die anderer zu spüren und zu achten.
Wer sich leicht überflutet oder eingeengt fühlt, kann im Kontakt schnell Enge oder Angst spüren, öfter die Flucht ergreifen oder das Gefühl haben, seine Grenzen verteidigen zu müssen. Wem Berührung gefehlt hat, der mag in der Suche nach Nähe vielleicht selbst manchmal Grenzen überschreiten oder Grenzüberschreitungen anderer tolerieren, sensibel auf Ausgrenzung reagieren, selbst auf Distanz gehen oder Distanz anderer schnell persönlich nehmen, und sich dann traurig, wütend oder verlassen fühlen.
Grenzen als Wegweiser
Wer den Widerstand an der Grenze sucht oder ablehnt zu spüren, kann darin einen wertvollen Hinweis finden. Oft zeigt sich da ein ungelebter Impuls, ein ‚ich will‘, das sich nicht ausdrücken darf oder kann. Lassen wir uns also vom Widerstand den Weg weisen zu unseren eigentlichen Bedürfnissen und ureigenen Sehnsüchten.
Wo spürst du deine körperlichen Grenzen gut, und wo spürst du sie nicht oder setzt dich über sie hinweg, z.B. in dem du zu viel oder zu wenig isst, zu lange arbeitest, bis zur Erschöpfung Sport machst oder bei Schmerz lange die Zähne zusammenbeißt? Wo tendierst du dazu, dich zu überfordern, und wo machst du das Gegenteil? Kennst du die Signale deines Körpers, wenn er dir sagt, dass es genug ist?
Ein schwieriger Umgang mit Grenzen kann uns erschöpfen, er bindet und lähmt unnötig unsere Lebenskraft. Es ist die Hingabe an die Grenzen, das sich hineinentspannen und gehalten sein, das uns befreit. Meine Haut und mein Haus, meine Zeit und Energie, meine Aufgaben und Möglichkeiten, all das hat Grenzen. Wenn ich sie gut spüren kann, dann entspannt sich mein Körper, mein Atem vertieft sich, ich fühle mich leichter, ruhiger, freier und präsenter, meine Energie fließt besser. Ich bin lebendiger, wacher, offener, weil ich mich zugleich sicher in mir fühle.
In einer Übung bitte ich Klient*innen, sich vorzustellen, dass die eigenen Grenzen sich immer mehr ausweiten und sie ihren Raum ausdehnen. Eine erstaunliche Erfahrung, in der gut spürbar wird, wieviel Energie, Lebendigkeit, Größe und Macht wir eigentlich haben, wenn wir unseren Raum einnehmen. Es spürt sich meist stark, präsent, offen und fließend an. Diesen Raum zu spüren, gelingt dann, wenn wir ein gutes Gefühl für unsere Grenzen haben.
Tanz der Qualitäten
Eine Grenze ist Trennlinie und Verbindungslinie in einem. Und beides ist wichtig. Ein Innen und ein Außen, ein Hier und Dort werden geschaffen, zwei Qualitäten treffen sich, die sich im besten Fall gegenseitig respektieren und sich ihrer Verbindung bewusst sind. Grenzen schaffen Klarheit, geben Halt und Struktur. Sie helfen uns, zu unterscheiden und einzuordnen. Ohne Grenze gäbe es keine eigene Identität, kein unabhängiges Empfinden und Handeln, keine Entwicklung. Wie wichtig Trennung als Voraussetzung für Verbindung ist, dazu habe ich schon in Im Tanz von Trennung und Verbundenheit geschrieben.
Ich finde das ‚Yin und Yang‘ Symbol dafür sehr schön. Die geschwungene Linie zwischen Hell und Dunkel, die Punkte im jeweilig anderen zeigen die beiden Seiten als aufeinander bezogene Kräfte, im Tanz miteinander. Die Grenze zwischen ihnen ist in Bewegung, eine dynamische sich ergänzende Beziehung. Ohne sie wäre alles Grau. Mit ihr aber ist die ganze Fülle präsent.
Tatsächlich, Grenzen machen das Leben bunt. Sie ermöglichen mir, meine Lebendigkeit zu spüren und mich dem Fluss des Lebens hinzugeben. Und dafür bin ich ihnen unendlich dankbar.
Sobald wir unsere Grenzen akzeptieren
wachsen wir über sie hinaus.
Albert Einstein