Ich stecke fest, in panischer Angst, zu ersticken. Mein Atem wird flacher, ich nehme ihn kaum mehr wahr, glaube die Besinnung zu verlieren. Doch ich halte aus. Und plötzlich kommt er, dieser eine Atemzug, unendlich lange und tief, ohne mein Zutun. Es atmet mich.
Es war ein besonderer Moment im Geburts-Seminar der Biodynamischen Ausbildung. Davor war mir nicht bewusst, was es bedeutet hat, im Geburtskanal festzustecken. Doch es hat mich tief geprägt, meine Atem- und Bewegungsmuster, meine Ängste und Widerstände.
Den Atem von selbst kommen lassen, das habe ich damals gelernt, vertrauen, dass er kommt, immer wieder. Ein. Aus. Immer wieder. Ganz von selbst. Die Pause dazwischen darf dauern, solange sie möchte. Das Leben kennt ihre Länge. Sie zu verkürzen oder auszudehnen macht Stress.
Es ist das Grundvertrauen ins Leben, das für viele selbstverständlich ist, und für manche eben nicht. Wenn du zu letzteren gehörst, dann vielleicht deshalb, weil schon der Weg in dieses Leben kein leichter war.
Geburtliches und vorgeburtliches Trauma
Auch heute noch, trotz Ultraschall und vorgeburtlicher Untersuchungen, wissen wir im Grunde wenig, welche Erfahrungen ein Kind im Mutterleib gemacht hat, wenn es auf die Welt kommt. Als wir uns im Geburtsseminar auf die Reise machten, unsere eigene Geburt nachzuerleben, haben mich unsere Geschichten tief berührt. Den Tod eines Zwillings miterlebt, von Medikamenten gelähmt und vergiftet, an der eigenen Nabelschnur oder im Geburtskanal fast erstickt, durch schlechte Nährstoff-Versorgung beinahe verhungert, Angst-erstarrt Gefühle oder Botschaften der Eltern miterlebt. Es waren Geschichten von Todes-Bedrohung, Zurückweisung und Einsamkeit, die hier endlich erzählt und bezeugt wurden.
Für mich war das der Beginn meiner Beschäftigung mit geburtlichem und vorgeburtlichem Trauma. Mehr zu meiner eigenen Geschichte, und darüber, wie solche Traumata wirken und nachgenährt werden können, kannst du in ‚von der Heilung des Embryo‘ nachlesen.
Ausgeliefert und hilflos
Kontrollverlust ist nicht meine Stärke. Vielleicht auch deshalb, weil ich mich im Geburtskanal steckend ausgeliefert fühlte. Vor kurzem war ich aufgrund einer kaputten Tür nachts eine Stunde lang unerwartet allein in einem fremden Badezimmer eingesperrt. Ich saß meditierend am Badewannenrand und übte mich im Vertrauen, dass sich eine Lösung finden würde. Sie kam in Form eines Mannes vom Schlüsseldienst. Als er sich dann nach erfolglosen Versuchen mit seinem Werkzeug mit voller Wucht gegen die Tür warf, verzog ich mich in die letzte Ecke und spürte plötzlich, wie mein Herz bis zum Hals klopfte. Dieser Mann wollte mich befreien, doch ich spürte nur die Aggression seiner Tat, mein Stresspegel stieg ins Unermessliche.
Und dann bekam ich ein Bild: Ich wurde bei der Geburt mit der Saugglocke geholt, in bester Absicht, mich aus dem Geburtskanal zu befreien. Ich, die noch nicht Geborene, spürte den Sog, dem ich ausgeliefert war, als bedrohliche Gewalt, und war in Todesangst. So begann mein Leben.
Mit der Saugglocke in den Brutkasten
Nach zehn Minuten im Arm und am Busen meiner Mutter wurde ich ihr, mit 2,5 kg in den 70ern nicht ’normalgewichtig‘, weggenommen und für zehn Tage in den Brutkasten verfrachtet. Meine Eltern, ich war ihr erstes Kind, kamen täglich, um mich hinter der Glasscheibe zu betrachten, die abgepumpte Muttermilch wurde mir von wechselndem Personal verabreicht. Glasscheiben-Kontakt, etwa per Video, lähmt mich noch heute, aktiviert unangenehm diese frühe Erinnerung.
Da lag ich nun, einsam hinter der Glasscheibe. Doch ich war nicht allein. Rund um mich lagen viele andere Babys in ebensolchen Brutkästen, jedes allein mit seiner Geschichte, die es ungehört in die Welt schrie. Doch ich habe sie gehört, die Geschichten, das weiß ich heute. Mein eigenes Erleben wurde intensiviert dadurch, hilflose Zeugin all dieser dramatischen Erfahrungen zu sein.
Vergessen und Erinnern
Nach zehn Tagen hat mich meine Mutter nach Hause mitnehmen dürfen, ich begann an ihrer Brust zu saugen, war geborgen und geliebt, mein kleines Baby-Gehirn regenerierte sich, und mein kluger Körper erlaubte mir, all diese Dramen vorerst zu vergessen. Ich bin sehr froh darüber, dass ich meiner Mutter noch sagen konnte, wie dankbar ich ihr dafür bin. Nicht alle Kinder haben dieses Glück, für viele vertieft sich ihr Trauma, wenn sie im Leben nicht liebevoll willkommen geheißen und umsorgt werden.
Jedes gesunde Baby schreit erst einmal kräftig nach der Geburt. Welche Geschichte es dabei erzählt, bleibt meist im Dunklen. Doch sie ist in jeder unserer Zellen gespeichert und prägt unsere Entwicklung mit.
Damals war vergessen das Beste. Es erlaubte mir, mich gesund zu entwickeln. Doch die Erinnerung steckte mir trotzdem in den Knochen: Ich atmete flacher und schneller als notwendig, bewegte mich vorsichtiger als andere, war schnell im Alarmzustand, bekam früh Herzrhythmusstörungen, kreierte mir immer wieder den gewohnten Druck.
Dem Körper-Wissen Raum geben
In der Biodynamischen Körperarbeit konnte ich meine ungehörte Geschichte spüren, erzählen und wurde damit wahrgenommen. Der tiefe Atemzug im Geburts-Seminar war ein wichtiger Mosaikstein in der Veränderung meines Atemmusters. Mein Nervensystem lernte im Laufe der Zeit, sich zu regulieren, meine Zellen gewöhnten sich an Entspannung und Ruhe.
Heute möchte und kann ich Zeugin sein für ungehörte und unsichtbare Erfahrungen. Ich bin ihnen nicht mehr ausgeliefert, wie damals im Brutkasten, sondern ich kann dafür bewusst Raum halten. Durch die Verbindung mit unserem Körper-Wissen können sich unsere Zellen erinnern, ausdrücken was war, lösen was uns nicht mehr dient. In der Biodynamischen Körperarbeit machen wir uns auf die Suche nach dem, was wir eigentlich gebraucht hätten, und dürfen körperlich erleben, was uns heilt und nachnährt.
Egal ob sichtbar oder nicht, bewusst oder nicht, dein Körper kennt deine Geschichte und erinnert sich. Wenn du ihm Raum gibst, sie zu erzählen, deine Erfahrung für wahrnimmst, bist du Zeug*in deiner Geschichte und Schlüssel deiner Veränderung.
When we deny our story,
it defines us, when we own our story,
we can write a brave new ending.
Brené Brown